Wissenschaftskitsch

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Kitsch ist ein recht gut beforschtes Phänomen, insbesondere auf Deutsch, es ist damit kein Zufall, dass das Wort Kitsch direkt ins Englische und auch in andere Sprachen übernommen worden ist. Zumindest im Englischen gibt es auch keinen alternativen Begriff, der den Sachverhalt exakt träfe. Benachbarte Kategorien im kulturellen Bereich, die teils Ähnliches aber eben nicht das Gleiche betreffen sind Camp und Trash sowie Bullshit und Humbug (dazu weiter unten mehr).
Wenn von Kitsch die Rede ist, geht es um Konzepte, die ihren Ursprung in deutschsprachigen Diskursen im Bereich der Kunst hatten. Der Begriff Kitsch wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals verwandt, er stammt vermutlich von in Süddeutschland arbeitenden Landschafstmalern, die leicht zu malende Bilder „billig“ produzierten, Motive verkitschten (Linstead 2002). Der Begriff entstand somit im Rahmen der Auseinandersetzung von Adepten hoher Kultur mit Massenkultur: Kitsch war danach das, was nicht echte Kunst war, war niedere (wenn denn überhaupt) Kunst und dabei nicht Volkskunst oder Kunsthandwerk (Eco 1989, Montgomery 1991). Aus diesem begrifflichen Zusammenhang stammt die immer wieder und immer noch anzutreffende Verknüpfung von Kitsch und Pop bzw. Populärkultur (auch dazu weiter unten mehr).
Kitsch war also seinen bürgerlichen Gegnern zufolge Kunstsurrogat, „innerlich unwahre Scheinkunst“ (Kraus 1997). Der Anglist Hans Dieter Gelfert spricht dann noch von einem „Missverhältnis von Gehalt und Gestalt“ (Gelfert 2000), mit anderen Worten, dem Kitschproduzenten fehlten nach Gelferts Lesart die künstlerischen Mittel, das zu evozieren, was er evozieren wollte. Kitsch wäre damit notwendigerweise etwas Schlechtes und immer schlechte Kunst, manche Autoren gingen gar so weit, in Kitsch das Schlechte in der Kunst sehen zu wollen.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Kitschbegriff ausschließlich dem Kunstbereich vorbehalten bleiben sollte oder ob nicht (1.) Kitsch auch woanders zu finden ist, z. B. in Denktstilen, im sozialen Leben, in politischen Systemen und in Organisationen (Linstead 2002) und ob (2.) in einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der so oft zu beobachtende pejorativ moralisierende Grundton tatsächlich zwingend ist. Beides würde einer Anwendung des Begriffes auf den Wissenschaftsbereich im Wege stehen und auf einen ersten Blick sieht es auch danach aus.
Denn bei Kitsch geht es schließlich um das Evozieren von Emotionen und Affekten, dies sind Heimeligkeit und/oder Erhabenheit allerdings auch – was für die Suche nach Kitsch in der Wissenschaft am wichtigsten ist – Widerspruchslosigkeit. Kitsch verträgt keine Ambivalenzen, ist unbedingt um das Erleben von Eindeutigkeit bemüht. Stets geht es darum, es den KitschrezipientInnen so angenehm wie möglich zu machen. Das kann auf Seiten der Kitschproduzierenden durchaus in einer strategischen Absicht geschehen und passiert immer wieder. Die Klassifizierung von Kitsch als dilletantische Kunst ist deshalb nicht zielführend.
Kitscherleben kann dann auf zwei Arten erfolgen, die einfache, die Kitsch nicht als Kitsch wahrnimmt und mit authentischer Rührung einhergeht. Rührung entweder über die Sache selbst, oder über die eigene Gerührtheit in Gemeinschaft mit so vielen anderen, oder aber auf eine ironische, die sich am eigenen schlechten Geschmack zu laben vermag. Wie in etwa bei der schwulen Rezeption der Liedkunst Marianne Rosenbergs. Geschieht dies ostentativ und thematisieren gar die Produzenten ihren schlechten Geschmack dann muss von Camp, nicht mehr von Kitsch die Rede sein (Linstead 2002). Andere an das Phänomen Kitsch heranreichende begrifflich benachbarte Kategorien sind noch wie oben gesagt Trash, Camp und Bullshit (Frankfurt 2005) sowie Humbug. Trash geht es im Unterschied zu Kitsch nicht um Erhabenheit, Wohlgefallen oder Eindeutigkeit, sondern um puren Kulturgenuss der gerne niederen Beweggründen folgen darf; Trash hat keinerlei hohe Ziele. Bullshit und Humbug zielen anders als Kitsch, Trash und Camp auf eine Wahrheitsdimension bzw. ihr Fehlen und berühren die drei Begriffe lediglich in der Dimension des Unechten. Alle genannten Kitschgrenzkategorien sind damit für den Wissenschaftsbereich ungeeignet.
Wie aber lässt sich Kitsch dann im Wissenschaftssystem, jenseits seiner Ränder und Grenzbereich und der medialen Vermittlung von Wissenschaft (Kaeser 2013) aufspüren. Zum einen natürlich germanistisch, indem man bei Autoren nach Passagen sucht, die irgendwie kitschig klingen (Doehlemann 2004). Dieses Vorgehen wäre aber unergiebig, es brennt zwar ein Feuerwerk von Kategorien wie geschichtsphilosophischer Sauerkitsch oder subaqualer Orakelkitsch (Doehleman zufolge bei Sloterdijk) etc. ab, landet aber letztlich bei einem Unernst, der dem Phänomen nicht gerecht zu werden vermag.
Interessanter als solche Klassifizierungsoperationen ist es, Kitsch als etwas zu betrachten, was im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Moderne und manchen ihrer Zumutungen entsteht und sich in vielen Feldern ereignen kann. Kitsch steht dann im Zusammenhang mit Vorstellungen von Guten Leben, mit Vorstellungen einer Welt, wie wir sie wollen, denn diese Vorstellungen sind immer wieder an Idyllen der Vergangenheit orientiert (Gieß 1971) oder eben an solchen der Einheit und Widerspruchsfreiheit (Kunert 1984).
Kitsch kann somit da auftreten, wo es Wissenschaftskateuren daran gelegen ist, Gefolgschaft zu gewinnen oder Nachwuchs zu binden. Damit könnte er eine Rolle in der Selbstreproduktion wissenschaftlicher Disziplinen spielen. Der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach hat nach Pädogischem Kitsch in der erziehungswissenschaftlichen Lehre gesucht (Reichenbach 2003). Gefunden hat er ihn im Begriff der Ganzheitlichkeit, durchaus auch in der Verwendung von Grundbegriffen wie Erziehung und Bildung. Danach scheint Wissenschaftskitsch gerne da zu entstehen, wo Disziplinen mit großen Praxisfeldern und den damit verbundenen Notwendigkeiten, Leuten Sozialisationserfahrungen angedeihen zu lassen, konfrontiert sind.
Organization Studies sind ein anderes Feld, das eine gesteigerte Kitschanfälligkeit aufweist.
Als Beispiel in diesem Forschungsfeld führt Linstead eine Arbeit der Autoren Tom Peters und Robert Waterman an. Die Monographie heißt In Search of Excellence: Lessons from America´s best Run Companies (Peters/Waterman 1982), dort wird, im wesentlichen auf Basis anekdotischer Evidenzen, beschworen, was exzellente Organisationen wohl sein mögen. Effizient, profitabel, gut für die Umwelt, exzellent eben. Dabei sind die Evidenzen danach ausgewählt möglichst widerspruchsfrei auszusehen, Ambivalenzen auszuschließen. Dies führe so Linstead dann dazu, dass etliche der Fallbeispiele schon nach recht kurzer Zeit von konträren Evidenzen aus der Welt geschafft worden sind. Gleichwohl aber wurde die Studie in der Organisationslehre breit rezipiert und verkaufte sich bestens, sie wurde auch außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gerne in Bücherregale von Managementetagen gestellt. Die beschrieben Kitschigkeit vermochte auch nicht zu verhindern, dass die Studie zur Grundlage etlicher Green Business Proposals geriet (Newton/Harte 2003).
Ein nicht minder kitschanfälliges Feld ist das der regionalen Innovationsforschung, insbesondere in dem Teilbereich der unter dem Label Neuer Regionalismus einzuordnen ist.  Auch hier finden sich Fallbeschwörungen in unendlicher Zahl. Gerne werden Ähnlichkeiten einer Region mit dem Silicon Valley hervorgehoben, oder es heißt, so etwas wie das Silicon Valley solle man überall machen, weshalb es im Rahmen von Regionalem Innovationspolitikmarketing unverzichtbar ist, die Wörter Valley oder Silicon in eine regionale innovationspolitische Marke aufzunehmen.** Was nun tatsächlich den Erfolg des Silicon Valley ausgemacht hat (die spezifische Kombination aus staatlichem Hochschulangebot und schrumpfender Rüstungsindustrie), ist dabei von nachrangigem Interesse und im Beschwörungszusammenhang eher hinderlich denn nützlich, denn es würde auf die Schwierigkeit der Reproduzierbarkeit solcher Bedingungen verweisen. In diesem Zusammenhang ist auch die Diagnose entstanden, bei vielen Studien und Konzepten dieser Art handele es sich nicht primär um wissenschaftlich Arbeiten, sondern mindestens auch um Beiträge zur Unterhaltung und Bestätigung regionalpolitischer Entscheidungsträger (Lovering 2002).
*Aufgrund der Komplexität des Themas muss dieser Beitrag das Format Blogbeitrag stark strapazieren und sich formal an einen wissenschaftlichen Fachaufsatz anlehnen, tut mir leid, geht nicht anders.

**So gibt es das High Tech Network Silicon Saxony, das inzwischen etwas austrocknende Solar Valley Mitteldeutschland, in Bayern gibt es um München herum das Isar Valley, die Gegend von Cloppenburg, Vechta und Oldenburg ist schon mal das Silicon Valley der Agrarindustrie genannt worden und der Software Cluster im Südwesten Deutschlands ist für Enterprise Software das Silicon Valley Europas, die Saarländische SPD wollte das Saarland einst bis 2009 zum Silicon Valley der Energietechnik machen und auch außerhalb Deutschlands erblühen viele Silicon Valleys … .

Literatur:

Doehlemann, Martin (2004): Gibt es Kitsch auch in der Wissenschaft?; in: Stefanie Ernst/Benno Biermann (Hg.): Auf der Klaviatur der sozialen Wirklichkeit: Studien – Erfahrungen – Kontroversen, Münster: Waxmann, 197-211.
Eco, Umberto (1989): The structure of bad taste; in: Umberto Eco (Hg.): The Open Work, Cambridge, Ma: Cambridge University Press, 180-216.
Frankfurt, Harry G. (2005): On Bullshit, Princeton: Princeton University Press.
Gelfert, Hans Dieter (2000): Was ist Kitsch?, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Gieß, Ludwig (1971): Phänomenologie des Kitsches, München: Fink.
Kaeser, Eduard (2013): Science kitsch and pop science: a reconnaissance; in: Public Understanding of Science, 22, 5, 559-569.
Kraus, Julia (1997): Der „Kitsch“ im System der bürgerlichen Ordnung; in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 28, 1, 18-39.
Kunert, Günter (1984): Verspätete Monologe, München: dtv.
Linstead, Stephen (2002): Organizational Kitsch; in: Organization, 9, 4, 657-682.
Lovering, John (2002): Theory led by policy: the inadequacies of the ‚New Regionalism‘ (illustrated from the case of Whales); in: International Journal of Urban and Regional Research, 23, 2, 379-395.
Montgomery, Scott L. (1991): Science as kitsch: The dinosaur and other icons; in: Science as Culture, 2, 1, 7-58.
Newton, Tim/George Harte (2003): Green Business: Technicist Kitsch; in: Journal of Management Studies, 34, 1, 75-98.
Peters, Tom/Robert H. Waterman (1982): In Search of Excellence: Lessons from America´s Best Run Companies, New York: Harper&Row.
Reichenbach, Roland (2003): Pädagogischer Kitsch; in: Zeitschrift für Pädagogik, 49, 6, 775-789.