Transformative Interserendipität oder wie wir eigentlich forschen sollten

Vor sieben Jahren habe ich für die Hans-Böckler-Stftung eine Expertise über Wissenschaftliche Kreativität geschrieben. Es ging darum, welche Rolle Kreativität im Wissenschaftsbetrieb zugeschrieben wird, wie verschiedene Disziplinen (Theologie, Philosophie, Psychologie und Soziologie) Kreativität definieren und wie sie in den sozialen Feldern wie Politik oder Wirtschaft in Hinblick auf ihre Anwendungen und Erwünschtheiten diskutiert wird. Im Herbst dieses Jahres resultierte daraus eine Einladung des Katholischen Universitätszentrums an der Universität Heidelberg, sie wollten im Rahmen eines Symposiums den Stellenwert von Kreativität im Wissenschaftsbetrieb ausloten. Mit der Frage konfrontiert, entweder abzusagen, weil es von mir zum Thema nichts Neues gibt oder einen Weg zu finden, wie ich an die beiseitegelegte Forschungslinie wiederanknüpfen kann, ohne stumpf einen alten Text zu referieren, habe ich mich dafür entschieden, im Vortrag einen zentralen Mechanismus wissenschaftlicher Kreativität zu beleuchten: Mertonsche Serendipität.

Serendipität benennt einen Mechanismus der Genese des Unerwarteten im Forschungsprozess, geht aber über Zufallsentdeckungen, mit denen ForscherInnen Originelles schaffen, hinaus. Begrifflich sind im Terminus Serendipität Zufall und Erkennensvermögen miteinander verbunden, sodass sichergestellt wird, dass nicht nur Originelles, sondern Originelles Relevantes geschaffen wird. Bei Horace Walpole dem Schöpfer des Begriffes hieß das „by virtue and sagacity“, es geht also um das Zusammentreffen von Zufall und Klugheit. Zumindest ein Faktor davon (der Zufall) lässt sich herstellen, deshalb sprachen insbesondere NaturwissenschaftlerInnen im Zusammenhang von Serendipität von controlled sloppiness, gemeint war damit kontrolliertes, dokumentierbar schlampiges Abweichen bei Versuchsanordnungen (der Biophysiker Max Delbrück hat diesen Begriff geprägt).*

Der Begriff Serendipität und seine Geschichte sind hinreichend interessant, dass ein genaueres Hinsehen lohnt, weil sich an ihm und an seiner Geschichte allgemeine Wissenschaftsgeschichte anhand von Eckdaten illustrieren lässt. Der als sonst eher dröger Funktionalist bekannt gewordene Robert K. Merton hat zusammen mit der Historikerin Elinor Barber ein sehr spannend zu lesendes Buch darüber geschrieben. Das Buch dürfte jenseits von popkulturellen Referenzen  und semantischer Attraktivität ausschlaggebend für die fachliche Popularität des Terminus sein, sicher aber war das Buch von Merton und Barber verantwortlich dafür dass der Begriff Eingang in die Wissenschaftssoziologie fand.

Serendipität ist zunächst einmal ein Privatwort, um 1750 erfunden von Horace Walpole einem englischen Elitensohn. Walpole war pflichtschuldigst Politiker ohne Fortune und Ehrgeiz; das musste er machen als Sohn eines Vaters der zweimal Premierminister war. Bekannt wurde er durch seine weit später veröffentlichen  mehr als 4000 Briefe, einen Roman und durch seine Bautätigkeit.

Bauend hatte er gut 100 Jahre bevor dies modisch wurde einen neogotischen Landsitz (Strawberry Hill) bei London hingestellt, schreibend hatte er mit dem Castle of Otranto das Genre des Horrorromans (der Gothic Novel) erfunden, in dem er mythische angereicherte Erzählungen aus einem spätmittelalterlichen Italien für ein englisches Publikum adaptiert hatte. Briefeschreibend war er dann insbesondere für seine Erfindung des Begriffs Serendipity berühmt geworden. Dafür hatte er Erzählungen, die aus dem Italien des 16. Jahrhunderts als orientalische Märchen überliefert worden sind aufgegriffen (wobei unklar bleibt, ob es sich bei diesen Geschichten um überlieferte Märchen oder einfach Erfindungen handelte, als Kandidat für die Urheberschaft gilt Michele Tramezzino, ein venezianischer Drucker und Landkartenverleger). In einer dieser (von Walpole dumm genannten Märchengeschichten) haben drei Prinzen aus Serendip (das ist ein alter persischer (Urdu-)Name für Ceylon) eine Jungmännerbildungsreise unternommen, auf der sie sich anlassloser Beobachtung von Dingen, die sie am Wegesrand sahen, befleißigten. Dabei sahen sie, dass an ihrem Weg links der Tretspur des Weges Gras abgefressen war, dass Tretspuren unregelmäßig waren etc. Kurz darauf wurden sie von Kaufleuten gefragt, ob sie ein verlorengegangenes Kamel gesehen hätten. Als Antwort darauf fragten sie die Kaufleute, ob das Kamel auf dem linken Auge blind sei und gehumpelt habe. Ja, sagten die Kaufleute, so sei das tatsächlich mit ihrem Kamel. Tage später wurden die Prinzen verhaftet, weil die Kaufleute örtlichen Strafverfolgungsbehörden nahegelegt hatten, dass die Prinzen ja wohl das Kamel gestohlen haben müssten, weil anders könnten sie ja nicht gewusst haben, dass das Kamel humpele und auf dem linken Auge blind sei. Nachdem die einsitzenden Prinzen einer gründlichen Befragung unterzogen worden waren, konnten sie allerdings glaubhaft versichern, dass sie die Eigenschaften des Kamels aufgrund von Beobachtungen am Wegesrand abduziert hatten, die Prinzen wurden freigelassen.

Soweit in Grundzügen die Märchengeschichte, die in verschiedenen Varianten kolportiert war (bei Voltairs Zadiq-Märchen war es eine verlorengegangene Hofhündin, in anderen Varianten ein Maultier). Interessant daran ist die Zufälligkeit des Beobachtens, seine Genauigkeit und das Erkennen einer situativen Bedeutung dessen, was man gesehen hat. Das an der Geschichte eigentlich interessante sind – was den Horizont meines Blogtextes angeht – aber nicht die Details der Geschichte, sondern die Rezeptions- und Verbreitungsgeschichte des mit ihr verbundenen Kunstwortes..

Erfunden wurde es von Walpole in einem sozialen Kontext, in dem Geld keine Rolle spielte und der Wettstreit um gesellschaftliche Anerkennung auf Basis reichlich vorhandenen Geldes ablief. Nicht zu langweilen, war das erste Gebot. Wer das schaffte, verschaffte sich Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dieser Umstand spielte selbstverständlich auch beim Schreiben von Briefen eine entscheidende Rolle, bei Briefen, die wohl eher nicht als Privatkorrespondenz zu sehen sind, sondern wohl am ehesten als etwas mit heutigen Facebookkommentaren Vergleichbares.

Walpole schrieb seinen Brief zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bedeutsamkeit von wissenschaftlichem Forschen und Beobachten jenseits von Unterhaltungshorizonten allenfalls in Konturen und für Minderheiten erkennbar war. Newtonsche Mathematik war seit gut hundert Jahren bekannt, seit einigen Jahrzehnten standen Dampfmaschinen in englischen Bergwerken und verkörperten damit erste wichtige Nutzanwendungen naturwissenschaftlichen Denkens. Man kann davon ausgehen, dass dies für Walpole auf der Hand lag. Diese Erkenntnis galt damals aber vermutlich nur für Teileliten, einen breiteren politischen Diskurs hatte sie vermutlich noch nicht erreicht.

Allerdings wurden Walpoles Briefe erst knapp hundert Jahre später einer breiteren intellektuellen Öffentlichkeit bekannt, zu einem Zeitpunkt, als in England die Industrialisierung .allgegenwärtig und unübersehbar war. Gleichwohl hatten auch damals die Industrialisierungseffekte noch nicht die ganz große Politik erreicht. Sie sollten erst einige Jahre später im Zuge der ersten technisierten Kriege (durch den Krimkrieg und noch mehr durch den Amerikanischen Bürgerkrieg) allen klar werden. Und erst noch einmal fast 60 Jahre später, als Großforschung zumindest in Deutschland mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 staatlich institutionalisiert war, fand der Begriff Serendipity (dann zwei Jahre danach) Eingang in die Encyclopedia Britannica.

Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass die Signifikanz des Begriffes erst dann vollumfänglich ersichtlich wurde, als eine staatlich organisierte Wissenschaft institutionalisiert wurde. Solange wissenschaftliches Forschen vor allem eine Nischenaktivität war, die zurückgezogen in Universitäten oder gar im Privatgelehrtentum ablief, konnte der Zumutungscharakter den jedwede auf Berechenbarkeit abzielende Akteure angesichts eines Begriffes wie Serendipität wahrnehmen mussten, nicht deutlich werden. Mit anderen Worten, zu einem Desiderat kann eine serendipitätserlaubende soziale Welt ja erst dann werden, wenn ein bürokratischer Steuerungsanspruch entwickelt ist. Das dürfte, was Wissenschaft und Forschung betrifft, in Deutschland (dem damals am weitesten fortgeschrittenen Land) etwa ab 1880 der Fall gewesen sein. Was die deutsche Wissenschaftsgeschichte betrifft ist dieser staatlich-ministeriale Steuerungsanspruch mit dem Namen Friedrich Althoff verbunden.

In den 1940er Jahren, als Robert Merton an der Columbia University sein Serendipitätsarchiv anlegte (s. Yaqub, 170) scheint dieser Zusammenhang dann aber offenkundig gewesen zu sein. Es ist von daher kein Zufall, dass die spätmoderne Karriere der Serendipitätsidee zu genau dem Zeitpunkt ihren Ausgang nahm, zu dem die Konturen, dessen, was heute Forschungspolitik heißt, entwickelt worden. Zeitlich in etwa parallel zu Mertons Recherchearbeiten arbeitete Vannevar Bush sein Konzept von reiner und angewandter Wissenschaft aus und entwickelte das Design dessen, was aus unserer Sicht noch immer ein Inbegriff von Staatswissenschaft, staatlicher Big Science ist: Das Manhattan Project.

Und dann sollte es noch einmal fast 50 Jahre dauern, bis Merton und Barbers in den 1950er Jahren niedergeschriebener Text als Monographie posthum veröffentlicht wurde, zu einer Zeit, als Wissenschaftssoziologie sich endlich freiszuschwimmen vermochte, aus dem Schatten der philosophischen Wissenschaftstheorie heraustrat und sich anschickte, im Kontext von neu entstehenden interdisziplinären Science and Technology Studies die Grundlegungen für transdisziplinäre Forschungsunterfangen bereiten zu können.

Gleichzeitig aber tritt der Begriff der Serendipität genau dann auf den Plan, als sich ein bislang beispielloser Organisationalisierungsschub des Wissenschaftssystems ereignete. Die bislang schwachen Organisationen, die wissenschaftliche Forschung in den meisten Ländern der Welt beheimaten (Universitäten, Forschungsinstitute und Forschungsgemeinschaften), die bislang organisational eher schwache Hülleninstitutionen gewesen waren, sind plötzlich gehalten, organisationale Eigenlogiken zu entwickeln und auszubauen. Sie sollen nun Strategien entwickeln, als Organisationen aktiv werden. D. h. hier entwickelt sich eine neue Spannungsdimension in der ohnehin schon spannungsreichen Welt des organisierten , die Wissenschaftsbetriebs. Zur Spannung von Forschung und Lehre (Avanciertheit und Vermittelbarkeit), Schaffung bei gleichzeitiger Zerstörung sozialen Kapitals, tritt die von Neuheitsanspruch und Überraschungserwartung mit organisationaler Berechenbarkeitserwartung, die aus der Notwendigkeit, Forschungsvorhaben budgetär zu planen, resultiert.

Wie die anderen institutionellen Spannungen auch wird sich auch diese Spannung nicht aufheben oder auflösen lassen, zu groß ist die Gegensätzlichkeit von erwünschten Überraschungen im Sinne davon, dass neues Wissen stets erwünscht ist und ihrer Unerwünschtheit, weil Organisationen aus der Berechenbarkeit der in ihnen vorgenommenen Entscheidungen bestehen.

So haben auch kluge ManagementforscherInnen erkannt, dass man Serendipität nicht managen kann, ebenso wenig, wie sich Erkenntnis anordnen lässt. Man kann aber sich anschicken, Serendipitätseffekte unterstützende Strukturen aufzusetzen. Viel wäre insofern gewonnen, wenn auch Wissenschaftsmanagement über seine Schatten spränge  und anfangen würde, danach zu fragen, wo im eigenen Tun die Ursachen kontraserendipitärer Effekte liegen. Das Problem, sie zu erkennen liegt selbstverständlich daran, dass es sich um nichtstattfindende Ereignisse handelt, schließlich liegen sie dann vor, wenn wissenschaftliche Erkenntnisereignisse nicht eingetreten sind und wer weiß schon, wann das passiert und Selbstberichte über akademische Nichtereignisse und verpasste Forschungschancen gibt es auch selten

Eine Internetrecherche bringt binnen Minuten zum Vorschein, dass Academic Failure vorrangig als pädagogisch behandelbares Problem von Studierenden oder gar SchülerInnen gesehen wird. Auf Seite drei der Google Ergebnisse findet man den berühmten CV of failures von Haushofer und dann lange wieder nichts. Systematische Untersuchungen verpasster Chancen scheint es – das legt schnelle Recherche nahe – nur in der Medizin gegeben zu haben (Murray, Julius Comroes Retrospectoscope-Monographie von 1977).

Warum nur dort, ist eine Frage, warum solche Forschung so folgenlos bleibt eine andere. Eine mögliche Erklärung für die zweite Frage ist, dass die Frage nach verpassten Chancen oder die Untersuchung, wie man Chancen verpasst, nicht gut zu wissenschaftspolitischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre passt. Schließlich hat sich Wissenschaftspolitik noch mehr als früher auf das Medium Geld verständigt, Unterfangen mittels Geld zu steuern, Forschungsrichtungen zu beeinflussen sind allgegenwärtig. Das ist auch selbstverständlich als Antwort darauf zu verstehen, dass Politik Wissenschaft nicht steuern, nicht direkt adressieren kann in einer diversen, gesellschaftlich vielfältigen, weltoffener gewordenen Demokratie, erst recht dann, wenn die Wissenschaft die einer Gesellschaft ist, die wissenschaftsbasierte Wissensgesellschaft sein will.

Da wird dann allerdings ein Spannungsverhältnis intensiviert, wenn ein grundlegender Mechanismus, wie wissenschaftliche Forschung Neues schafft aus einer Zeit und Welt stammt, in der Geld kein Problem war und originell zu sein wichtiger war, als Geld, das man ohnehin hatte. Die nach Geld suchenden Wissenschaftsakteure heute versprechen ja lediglich Neues, Innovation, das Geld bekommen sie jedoch für Vorhabensbeschreibungen, d. h. für das Bekunden und Beschreiben von Forschungsvorhaben, nicht aber dafür, dass sie tatsächlich Neues schaffen. Ein Weg, dieses Dilemma aufzuheben wäre vermutlich der auch schon recht angejahrte Vorschlag, die Forschungsfinanzierung stärker auf Preise umzustellen (aber auch da, wäre die vergangene Forschung maßgeblich für die zukünftige). Ein anderer Weg wäre es, auf Zukunftsfragen bezogene Fragestellungen auszuloben. Ein dritter Weg ist philanthropische Forschungsförderung die jenseits staatlicher Forschungspolitik Forschung entlang bestimmter Fragestellungen und Perspektiven so ausstattet, dass Geld in einer Weise nicht mehr zum Problem wird, wie dies heute im Rahmen staatlich finanzierter Forschung weder mach- noch legitimierbar ist (punktuell realisiert ist solch ein Approach im Allen Institute, vor etwa zwei Jahren habe ich hier darüber geschrieben).

Für eine Fortentwicklung Transformativer Wissenschaft ergeben sich unter einer Serendipitätsperspektive eine Reihe neuer Blickwinkel. Zum einen der Aspekt der Interserendipität: Damit meine ich die Effekte, die sich einstellen, wenn die unterschiedlichen Relevanzarchitekturen transdisziplinär kooperierender Akteure aufeinandertreffen und man sich fragt, was es denn nur bedeutet, wenn man die Relevanzaspekte der KooperationspartnerInnen in das eigene Denken mit einbaut, und wie man davon ausgehend nun mit Anderen zusammen Forschungsfragen und -gegenstände designt. Da tun sich neue Denkräume auf und wenn man den Transformationsbegriff an polanyischen und nicht an alltagspraktischen Maßstäben entwickelt** (d. h. Transformation als einen offenen Prozess unbekannten Ausgangs und nicht als einen alltäglichen Prozess der Veränderung (sozio‑)technischer Arrangements betrachtet) insbesondere für anwendungsorientierte Forschung bislang ungekannte Freiheitsgrade. Gerade in Wissenschaftsbereichen, die wie die Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung von sehr projektifizierten Strukturen geprägt sind und damit eher kurzfristigen Finanzierungslogiken unterliegen, kann die Orientierung an großen gesellschaftlichen Herausforderungen Freiheitsräume öffnen und die Gelegenheit entstehen nach den contraserendipitären Effekten projektifizierter Forschungsarrangements zu fragen.

*das berühmteste und in diesem Zusammenhang meistgenannte Beispiel sind Flemings schimmelige Kokkenschalen, in denen er den Pilz entdeckte, aus dem er dann die berühmt gewordene Aminopenicillinsäure extrahierte.

**damit meine ich, Transformative Wissenschaft als eine Wissenschaft zu fassen, die sich nicht neutral zur Frage der Schaffung nachhaltiger auf Dauer möglicher Zukünfte verhält und sich als Katalysator gesellschaftlicher Veränderungsprozesse versteht.