In englischen und insbesondere amerikanischen Zeitungen erscheinen immer wieder Kommentare und Artikel, die sich darüber beklagen, die akademische Welt sei links und Konservative hätten es dort schwer. Erstaunlicherweise findet man diese Auffassung nicht nur an den rechten Rändern des Mediensystems, sondern auch in seriösen Medien. Als Beleg dafür wird regelmäßig sehr viel Zahlenmaterial aufgehäuft, welches dann besagt, dass etwa drei Viertel aller an Colleges und Graduate Schools arbeitenden Akademiker Liberals seien, viele, ja die meisten von ihnen Konservative nicht so gerne als KollegInnen hätten etc… Das – so wird dann auch gerne behauptet – müsse der Wissenschaft als solcher schaden. Ein solches Ergebnis – so geht der anklagende Tenor weiter – könne nur daher rühren, dass Konservative aktiv ausgegrenzt würden und dass die Studierenden von Anfang an mit linken Inhalten traktiert werden und dementsprechend links indoktriniert würden. Das passt hervorragend zu Erfahrungen foxnewskonsumierender Eltern, die von ihren ein College besuchenden Kindern mit anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten konfrontiert werden.
Neil Gross Autor des Buches Why Are Professors Liberal and Why Do Conservatives Care?, sieht das insofern anders, als er anmerkt, dass konservative Studierenden eine signifikant geringere Neigung haben die Graduate School zu besuchen und stattdessen sich an professional schools einschreiben. Sie tun das – Gross zufolge – auch aus der Annahme heraus, an Graduate Schools nicht willkommen zu sein, aber auch, weil sie in ihrem sozialen Umfeld negative Kommentare und Missbilligung zu gewärtigen hätten, wenn sie sich für die Graduate School entscheiden würden.
Hierzulande sind solche Auffassungen zum Glück nicht gesellschaftsfähig und dementsprechend kaum in seriösen Medien zu finden, was aber nicht heißt, dass es sie nicht gäbe. Es geht dabei seltener um die Idee, die akademische Welt, die Hochschulen als ganze seien links, sehr wohl aber um die Auffassung, die Sozialwissenschaften (minus die Wirtschaftswissenschaften) seien politisch nicht neutral oder gar links. Deutlich wird das an immer wieder einmal aufflammenden Auseinandersetzungen über ökonomische Bildung im Schulunterricht, in denen Vorstellungen von Wirtschaftsvertretern auf die von SozialwissenschaftlerInnen treffen. Eine Reaktion der DGS auf die Vorfälle findet sich hier.
Verwirrend wirkt die amerikanische Debatte aus europäischer Sicht schon einmal wegen der Gleichsetzung von liberal und links, aus Sicht der Republikanisch-Konservativen ist offenbar alles, was sich links von ihnen bewegt liberal und liberal ist gleich links. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die politische Mitte in den USA woanders liegt, als in Europa. Es verweist aber auch auf allgemeine Probleme der Links-Rechts-Unterscheidung, die heute nicht mehr so politisch instruktiv ist, wie sie dies in der Vergangenheit war. Armin Nassehi hat deshalb behauptet, die Unterscheidung von Links und Rechts mache heute politisch nicht mehr den entscheidenden Unterschied, und hat das aber nicht überzeugend zu begründen vermocht. Überzeugend ist allerdings seine politische Hintergrundtheorie dafür. Er stellt dem immer noch verbreiteten Rechts-Links-Schema ein dreipoliges Modell gegenüber: Danach gehe es der Linken um einen Umbau der Gesellschaft, um zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und/oder Nachhaltigkeit zu gelangen; der Rechten hingegen gehe es um gesellschaftliche Homogenität als Lösung nicht nur gesellschaftlicher Probleme; Konservative hingegen sähen ein primäres Problemlösungspotential im Zusammenfallen von Wollen und Sollen auf Ebene des Individuums.
Aus diesem Modell lässt sich erklären, warum es auf Seiten der Linken eine Affinität zur akademischen Welt gibt, denn dem Erstellen von Gedankengebäuden und Texten wohnt ein auktoriales Element inne, wer schreibt und intellektuelle Architekturen errichtet, tut das nicht ohne Grund, er will etwas anders machen oder anders haben. Konservative, die weniger Umbauwünsche haben, zieht es weniger zur Wissenschaft und mehr dorthin, wo es wirklich Geld zu verdienen und Status zu erwerben gibt. Sofern sie Wissenschaft machen häufen sie sich in der Wirtschafts- und Rechtswissenschaft. Insofern würde Nassehis Perspektive Gross bestätigen. Es gibt aber noch viele interessante Nebenbeobachtungen, dies sich im Anschluss an Nassehi anstellen lassen.
Beginnen möchte ich mit dem Problem, dass es im Nassehi-Modell keine Mitte gibt, was allerdings so schlimm nicht ist, weil die Orientierungen ohnehin selten in Reinform vorliegen, jemand der sich als in der politischen Mitte verortet betrachten würde wäre somit in Deutschland in der Nähe des konservativen Pols, aber schon ein bisschen links davon angesiedelt nicht jedoch im nassehischen Sinne als Konservativer zu bezeichnen.
Nassehis Argument, die links-rechts-Skala sei heute nicht mehr so instruktiv, könnte deshalb zutreffen, weil die Skala mehr als zweihundert Jahre alt ist: Sie wurde in einer postagrarischen Zentralenklave einer Agrargesellschaft entwickelt. Problematisch ist die Skala deshalb, weil seit ihrem Entstehen sehr viele Möglichkeiten anderer Meinung zu sein hinzugekommen sind: Der Abschluss der vor der französischen Revolution begonnenen welthistorischen Umbruchphase (1780 – 1820), die Entstehung des Nationalismus als gesellschaftliches Inklusionsmodell, eine große Transformation (die industrielle Revolution), die Wandlung des Nationalismus zum gesellschaftlichen Exklusionsmodell und noch eine welthistorische Umbruchphase (1910 – 1950), schließlich das Umweltproblem.* Das Politische hat sich seit her stark ausgeweitet und bezieht sich auf weitaus mehr Gegenstandbereiche, als dies zu Zeiten der Französischen Revolution der Fall. Was die alte rechts-links-Skala zu all den, mit den genannten Wandlungen verbundenen Kontingenzen sagen mag, ist alles andere als klar, daher die reichliche Verwirrung. Eine Aufsplitterung der Skala entlang, sozialer und kultureller Dimension hilft nur bedingt weiter, weil sie zu viele Möglichkeiten, unterschiedlicher Auffassung zu sein, nicht zu erfassen vermag, das gilt auch für Mehrachsenmodelle wie z. B dieses (dort auf S. 3).
In Agrargesellschaften war es die gleichsam naturwüchsig anzutreffende Disposition rechts zu sein. Nichthomogenität konnte vor diesem Hintergrund als Auslöser gesellschaftlicher Problemlagen erscheinen, am naheliegensten erschien es damals, wenn die meisten das machen, was ihnen gesellschaftliche vorbestimmt gewesen zu sein schien. Der Wahlspruch dazu war in etwa „Schuster bleib bei Deinen Leisten!“. Demzufolge waren die meisten agrarisch geprägten politischen Systeme rechts. Allerdings schon im 18. Jahrhundert längst nicht mehr alle, einige waren ökonomisch damit erfolgreich, andernorts verfolgte Migranten aufzunehmen und deren Qualifikationen in die technologische Basis und Wissen in der Gesellschaft zu integrieren (z. B. Preußen, das in Frankreich verfolgte Hugenotten aufnahm, und dies durchaus auch aus wirtschaftspolitischen Motiven tat, denn diese brachten handwerkliche Fähigkeiten mit, die denen der in Preußen ansässigen Bevölkerung überlegen waren). Wie auch immer, in der Ursprungskonfiguration waren Konservative rechts, daher rührt die Nähe der bürgerlichen Konservativen (die die Wollen und Sollen ineinanderfallenlassen möchten) zu den Rechten, die es gern homogen hätten. Vor der Folie der Industrialisierung und der Entwicklung eines Bürgertums hat sich diese Verknüpfung allerdings nennenswert abgeschwächt. Man trifft sich aber noch bei der Ablehnung gesellschaftlichen Umbaus und bei der Perspektive auf die Ungleichheit.
Die Konservativen sind von Ungleichheitsdiskursen gestört, weil diese zeigen, dass nicht alle gleichermaßen Wollen und Sollen ineinanderfallenlassen können, unten in der Gesellschaft macht das wesentlich weniger Spaß als oben. Schließlich ist es sehr viel angenehmer, Rechtsanwalt sein zu sollen und zu wollen, als – sagen wir – Kassen- und Regaleinräumkraft bei Lidl. Die Rechten hingegen fühlen sich von Ungleichheitdiskursen gestört, weil sie die Basis ihrer Homogenitätsvorstellungen in Frage stellen. Das Problem der Konservativen liegt damit in der Nichtuniversalisierbarkeit ihrer Idealvorstellung, dass der Rechten darin, dass sie zunächst exkludieren müssen, um ihre Volkshomogenität pflegen zu können.
Die Linke hat andere Probleme. Da wäre zum einen die Anfälligkeit für Technokratie, zum anderen die immer wieder rechts der Linken genüsslich hervorgehobene Differenz von Denken und Schreiben und Handeln. Der Vorwurf hier lautet, gerade die städtischen Eliten hätten linke Diskurse auf den Lippen würden aber rechts handeln. Nur, das ist kein besonderes Charakteristikum städtischer Eliten oder links Argumentierender. Die Sozialpsychologie beschäftigt sich schon lange mit der Frage, warum es so vielen von uns so leicht fällt, Dinge zu tun, von denen wir wissen, dass sie (eigentlich) falsch sind. In der Umweltpsychologie nennt man das Differenz von Wissen und Handeln. In den oberen Etagen der Gesellschaft funktioniert das Ausleben dieser Differenz auch auf sozialpolitischer Ebene, kulturell erst recht, denn die Inklusion sozialer Andersartigkeit ist nicht bequem. Aber: Wer in seiner Theorie und in seinen Ansprüchen erst gar keine sozial an Inklusion und Demokratie geschärften Vorstellungen vertritt, kann sie auch nicht in seinem Alltagshandeln verraten, Rechte und Konservative haben es deshalb einfacher.
Technokratische Neigungen sind nicht gleichermaßen überall im linken Spektrum zu finden, manche Spielarten politischen Denkens sind dafür anfälliger als andere, dennoch man findet sie im Nachhaltigkeitsdiskurs, in der Umweltpolitik, beim Reden und Nachdenken über große gesellschaftliche Herausforderungen, oder in der Irritation darüber, dass Leute ihre objektive Lage nicht erkennen. Wer keinen gesellschaftlichen Umbau will, weil er meint, die Arrangements sind im Großen und Ganzen in Ordnung, ist allein schon deshalb weniger anfällig, auf technokratische Muster zu verfallen, deshalb ist in der Politik (nicht im Bereich von Management und Organisation) Technokratie in erster Linie ein Problem der Linken. Antidote gegen Technokratie sind Demokratie, Partizipation, diskursive Offenheit und die Bereitschaft, Geltungsansprüche anderer Handlungsfelder ernstzunehmen. Viel spricht dafür, dass linke Perspektiven, was diese Aspekte angeht, mehr zu bieten haben als konservative oder rechte, denn anders als diese haben sie eine nicht weitestgehend negativen Bezug auf reale Ausprägungen von Gesellschaft und den öffentlichen Angelegenheiten, denn diese haben im konservativen Konzept der sozialen Einpassungsoptimierung keinen Platz und im rechten nur dann, wenn die Exklusion aller nicht Eigenen stattgefunden hat.
Von hier kommt man dann wieder zur Ausgangsfrage des Artikels, warum sieht die akademische Welt, die Sozialwissenschaft von außen links aus? Zum Beispiel halt, könnte man jetzt vor dem Hintergrund der oben angestellten Überlegungen sagen, weil gesellschaftstheoretische Abstinenz in den meisten sozialwissenschaftlichen Kontexte von der neoklassischen wirtschaftswissenschaftlichen Schule einmal abgesehen nicht allzu naheliegend erscheint und weil andererseits viele praktische Ausprägungen rechten Denkens es für akademisch geprägte Denkstrukturen nicht so leicht machen, diese ernst zu nehmen: So fällt es schwer, zu all die klimaforschungskritischen immer wieder auch selbstbezüglichen und realitätsnegierenden Diskursen auf der Rechten positive Bezüge herzustellen.
*Der Begriff historische Umbruchphasen steht hier für Zeiträume nach deren Ablauf das politische Weltsystem nicht mehr wiederzuerkennen war, sich grundlegend neu sortiert hatte. Zumeist gingen diese Umbrüche auf technologischen Wandel und damit verbundenen Kostensteigerungen von erfolgversprechender in konfliktiven Kontexten auch territorial konkurrenzfähiger Staatstätigkeit zurück. Imperiale Ziele und Handlungsvermögen passten plötzlich nicht mehr zueinander. So kam es im Zuge der Umbrüche 1780-1820 zu nennenswerten administrativen und politischen Effizienzsteigerungen und neuen Herrschafts- und Staatsmodellen, bis eine Konstellation geschaffen war, die den Boden für eine Ausbreitung industrieller ökomomischer Muster bereiten konnte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es nach einer Phase der Stabilität zu erneuten Beschleunigungsprozessen, die in zwei weltumspannenden Kriegen mündeten (vgl. zu Konzept und Begriff dieser welthistorischen Umbruchphasen: Christopher A. Bailey: The Birth oft he Modern World, Malden: Blackwell Publishers 2004, S. 86 ff.).