Anthropozäne Politik – Eine politikwissenschaftliche Gedankenskizze

Seit dem Frühjahr 2019 schwimmen die Grünen auf einer Erfolgswelle. Warum diese Welle eben kein Hype und auch mehr als eine Amplitude medialer Konjunkturen ist, werde ich im Folgenden genauer untersuchen und begründen. Meine These ist, dass der gegenwärtige Erfolg der Grünen Ausdruck eines grundsätzlichen, tiefgreifenden Wandel des Politischen ist: der Entstehung einer dritten, anthropozänen Form moderner Staatlichkeit, die die industrialistisch-teilhabeorientierte präanthropozäne Staatlichkeit des 20. Jahrhunderts ablöst. Um diesen Wandel zu beschreiben, entwickele ich zunächst ein auf Globalgeschichte basierendes politikwissenschaftliches Modell, das erklärt, wie und warum die Grünen zum Bezugspunkt politischer Standortbestimmungen werden konnten und warum Klimapolitik dem Anschein nach stets an die Grüne Partei adressiert ist. Anschließend gehe ich der Frage nach, was daraus einerseits für die Grüne Partei folgt und was sie andererseits immer wieder daran hindert, die Verantwortung, die aus dieser Rolle folgt, für sich annehmen zu können. Zum Schluss unternehme ich den Versuch, Eckpunkte einer zukunftsgewandten anthropozänen Politik zu skizzieren. Das Papier versteht sich als Ausgangspunkt einer Diskussion.

Eine neue Achse des Politischen: Von der präanthropozänen zur anthropozänen Konstellation

Die lange Zeit so dominante Links-Rechts-Achse des Politischen ist nicht verschwunden, hat aber an Bedeutung verloren. Andere Achsen, andere Dimensionen sind ihr zur Seite getreten. Die wichtigsten dieser neuen Achsen sind die liberal-autoritäre, die individualistisch-kommunitaristische/kollektivistische und die ökologischindustrialistische. Diese dritte Achse ist die neueste und politikwissenschaftlich am wenigsten explorierte – und zugleich die wohl relevanteste. Steht doch die ökologisch-industrialistische Achse für eine neue Jahrhundert­frage des Politischen: Wie kann es gelingen, gesellschaftliche Teilhabe und Natur- und Ressourcenverbrauch voneinander zu entkoppeln? Damit ist sie auch die erste Achse nach fast 150 Jahren, die das Potential hat, die Links-Rechts-Achse abzulösen. Die Frage des 21. Jahrhunderts wird die ökologische sein, es wird die Frage sein, ob es uns gelingt, so schnell Strukturen umzubauen, dass der Klimawandel nicht zu einem Jahrhundertdesaster gerät.

Auf genau dieser ökologisch-industrialistischen Achse sitzt die Grüne Partei, weshalb sie zu einem neuen Referenzzentrum des Politischen geworden ist. Das Zentralwerden dieser Achse ist Zeichen – so meine These – für die Entstehung einer dritten, anthropozänen Phase moderner Staatlichkeit. Um diese Entstehung dieser anthropozänen politischen Konstellation erklären und analysieren zu können, entwickele ich im Folgenden ein dreiphasiges Modell moderner Staatlichkeit: Vom modernen Staat 1.0 bis zum modernen Staat 3.0. Am Anfang meines Modells steht Christopher Baylys Beschreibung des modernen Staates[1], die für mich auch deshalb so plausibel und anschlussfähig ist, weil sie in ein globalhistorisches Rahmennarrativ eingebunden ist. Baylys Erzählung ist um eine welthistorische Großkrise 1780 – 1820 herum organisiert und wird durch eine weitere globale Großkrise 1914 – 1945 beendet. In der ersten Globalkrise brach die alte Ordnung der Frühen Neuzeit zusammen, in der zweiten wurde ein Abschied von der Weltordnung des langen 19. Jahrhunderts eingeleitet und vollzogen. Nach der ersten globalen Großkrise hatte sich die von Bayly beschriebene Konfiguration moderner Staatlichkeit global durchgesetzt, nach der zweiten war sie definitiv von einer Folgekonstellation abgelöst. Ich habe für dieses Papier das von Bayly angelegte Modell moderner Staatlichkeit mit politikwissenschaftlichen Mitteln fortgeschrieben und bis ins beginnende 21. Jahrhundert verlängert, an seinen modernen Staat eine zweite und dritte Fortentwicklungsform angehängt.

Die erste Form des modernen Staates – moderner Staat 1.0 – begann sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts herauszubilden, zunächst als Nationalstaat in Frankreich, Schweden und Teilen Westeuropas. Er löste die agrarischen Großreiche und Staatsformen der alten Ordnung ab. Im Unterschied zu vormodernen Staatformen der alten Ordnung war er effizienter, organisierter geworden. Interpretierbar ist seine Entstehung als eine Reaktion auf eine Entwicklung, die der Wirtschaftshistoriker Jan de Vries Industrious Revolution genannt hatte.[2]

Bei den industrious Revolutions handelte es sich um eine weltumspannende Verkettung vergleichsweise kleiner, die privaten Haushalte betreffender Innovationspakete[3] und Anstrengungen. Diese führten in Europa im Ergebnis dazu, dass die Effizienzdefizite vormoderner Staaten sichtbar zum Problem wurden, insbesondere, weil durch eine Vielzahl kleinerer technischer Innovationen die Kosten von staatlicher Gewaltausübung rapide gestiegen waren. Der neue – so Bayly – revamped state[4] machte sich die Aufgabe zu Eigen, Infrastruktur bereitzustellen, für Sekundarbildung die Verantwortung zu übernehmen, stehende Heere und permanente Flotten aufzubauen. Um all dies gewährleisten zu können, wurde ein Beamtenapparat und eine verlässlichere Rechtsordnung und der Einsatz einer Menge Geldes unabdingbar. Die Medien[5] des modernen Staates 1.0 waren insofern Macht und Recht. Macht wurde berechenbarer, weniger arbiträr, stattdessen begann sie an einer Eigenlogik des Nationalen zu bauen, auch begann sie (diesseits des Atlantiks), schreiende Ungleichbehandlungstatbestände wie z. B. Sklaverei abzubauen. Recht, was seine Setzung und Anwendung anbetraf, wurde überall universeller und begann auch staatliches, vormals herrschaftliches, bis dahin nicht rechtfertigungspflichtiges Handeln zu betreffen. Bürger, sofern sie männlich, weiß und besitzend waren, konnten sich, anders als die Untertanen der Vormoderne, allmählich auf ihr Recht berufen.

Auf diese erste Form des modernen Staates folgte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ein moderner Staat 2.0, der auf seinem Vorgänger aufsaß, diesen aber weiterentwickelte. Der Staat 2.0 begann seine Logik auf die Gesamtbevölkerung zu beziehen. Getrieben war diese Entwicklung von den im Zuge der industriellen Revolution entstehenden sozialistischen Bewegungen. Der neue Staat kümmerte sich um Sozialversicherungssysteme, es gab basale Armutsfürsorge, Schulpflicht für alle (auch für Mädchen auf dem Land und Arbeiterkinder), Wahlrecht auch für die, die wenig oder nichts besaßen, und im frühen 20. Jahrhundert dann auch für Frauen. Die Medien dieses modernen Staates 2.0 waren Geld, das man auch umverteilte, und Teilhabe, die zunehmend allen, sofern sie erwerbs- und geschäftsfähig waren, gewährte.[6]

Die Teilhabeorientierung legte dann den Kern für den Übergang zu einem modernen Staat 3.0, denn sie basierte neben der Zuerkennung von Rechten auf Konsum, der Verfügbarkeit von Dienstleistungen und Gütern und dem Wachstum all dessen. Dieses Wachstum stieß immer mehr und immer wieder an Grenzen, was den Staat immer wieder dazu veranlasste, sich um Stoffliches, Dingliches kümmern zu müssen. Die Eliminierung von Fluorkohlenwasserstoffen (FCKWs), die Entschwefelung und Entrußung von Energie- und Stahlproduktion waren die Vorboten dessen, was in den nächsten Jahrzehnten wird kommen müssen, wenn die entwickelten Gesellschaften entwickelt bleiben wollen.

Nur ist die Dekarbonisierung eines Wirtschaftssystems, zudem eines, das zu großen Teilen um das Verbrennen fossiler Kohlenwasserstoffe herum gebaut ist, eine schwerere, weit komplexere Aufgabenstellung als die Entfernung von Ruß, Schwefel und FCKW aus überschaubaren Stoffkreisläufen. Eine der zentralen Folgen des eben beschriebenen Wandels ist ein neues Verhältnis von Politik und Wissenschaft, das beim modernen Staat 3.0 in einem neuerlichen Wandel der Medien des Politischen zum Ausdruck kommt: nunmehr sind die wesentlichen Medien des sich neu formierenden Politischen Daten und Wissen. Politik kann nicht mehr, wie in den vorgängigen Stufen, frei entscheiden, welche Wissensbestände sie zur Kenntnis nimmt und welche sie ignoriert oder suspendiert, sie muss ihr präanthropozänes Stadium hinter sich lassen. Wenn politisches Handeln anerkannterweise Konsequenzen für das Klima, den weiteren Verlauf der Erderhitzung hat, muss es neue Formen der Interaktion mit Wissenschaft und der demokratischen Verarbeitung der nicht auf demokratischem, sondern meritokratischem Wege zustande kommenden Impulse aus dem Wissenschaftssystem entwickeln. Wieder begibt sich Politik damit in eine scharfe Lernkurve, die zu Irritationen und Friktionen, ja Disruptionen führen kann.[7]

 

Tabelle I: Typen des mod. Staates

Hervorbringungen Reaktion auf Medien
Mod. Staat 1.0 1780 – 1870 Eisenbahnen, stehende Heere, permanente Flotten, staatliche Appropriation sekundärer Bildung Industrious Revolutions, Geldbedarf für militärische Machtausübung Macht und Recht
Mod. Staat 2.0

1870 – 1980

Sozialversicherung, Allgem. und Freies Wahlrecht, Schulpflicht Industrielle Revolution, Entstehung von Industriearbeiterschaft Geld und Teilhabe
Mod. Staat 3.0

seit 1980

???, Neue Formen der Integration von Wissenschaft und Politik Umweltkrise, Klimawandel, Technikentwicklung Daten und Wissen

 

Aber rückblickend betrachtet war jede dieser Transformationen mit neuem staatlichen Handlungsvermögen und neuen staatlichen Aufgaben und Technologien verbunden, jede war eine Ausweitung des Politischen. Keine der Transformationen ist jemals abgeschlossen und jede baut auf der Vorhergehenden auf. Und nach jeder dieser Transformationen ist moderne Staatlichkeit ohne ein Adressieren der mit der jeweiligen Transformation verbundenen Kernfragen nicht mehr denkbar.

 

Die Grünen als Partei der Stunde und was sie zurückhält: Das linke und ökologische Sympathieparadoxon und Ästhetisierung von Unbedingtheit als Probleme ihrer Selbstbeschreibung

Und Bündnis90/Die Grünen sind nun die erste Partei, die diesen neuerlichen Wandel des Politischen verkörpern könnte.[8] Wie zentral das ist, wird daran deutlich, dass politische Differenz sich heute über die Entfernung oder Nähe zu den Grünen bestimmt. Auch das von der Bundesregierung in diesen Tagen geschnürte Klimapaket ist – obzwar unzureichend frankiert – an Die Grünen adressiert. Daraus resultiert andererseits aber auch eine Verantwortung, der die Partei (noch) nicht auf allen Ebenen und in jeglicher Hinsicht gerecht werden kann. Was hier zurückhält, hat auch mit der verbleibenden Persistenz der Links-Rechts-Polarität zu tun, denn die Industrialismus-Ökologie-Spaltungslinie hat auch eine Links-Rechts-Komponente – nicht von ungefähr ist heute die Leugnung eines menschengemachten Klimawandels ausschließlich rechts konnotiert –, aber sie ist nicht allein darüber zu beschreiben. Die neuen Spaltungslinien gehen derzeit noch mitten durch andere Parteien und politische Lager hindurch, mitunter sind sie bei manchen Parteien nicht einmal zu sehen (so z. B. bei der FDP, bei der nicht nur ein sozialliberaler, sondern auch ein ökoliberaler Flügel nahezu verschwunden ist).

Aber auch bei den Grünen ist der Wunsch groß, an einer über die Links-Rechts-Achse organisierten Weltbeschreibung festzuhalten, weshalb auch der Grüne Diskurs Bedingungen unterliegt, wie sie für jede Art linken Sprechens nach 1968 prägend waren. Es sieht aus einer linken Perspektive dann so aus, als sei ein Adressieren der neuen ökologisch-industrialistischen Achse gleichbedeutend mit dem Aufgeben eines linken Selbst- und Weltverständnisses. Dabei kann aus dem Blick geraten, dass ein heutiges linkes Selbstverständnis, wenn es zukunftsfähig sein will, auch ein ökologisches sein muss. Zwar schlacken Grünen dabei die Sedimente der Kämpfe des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht so sehr an den Beinen wie den anderen Parteien, die deshalb den Links-Rechts-Widerstreit immer wieder aufführen müssen. Aber es gibt da die Stärke der Grünen Politik, die zugleich eine Schwäche ist: Die Unfähigkeit, beim Politikmachen von dinglichen Bezügen des Politischen abzusehen, bei Adressierung der ökologischen Frage die Partei des wissenschaftlich Evidenten sein zu wollen.[9] Aus diesem Wunsch, den Forderungen der Wissenschaft eine politische Stimme geben zu wollen, resultieren gefühlte Unbedingtheiten, Neigungen, Dinge wie „die Natur verhandelt nicht“ und Politik habe die Dinge nach Maßgabe der Wissenschaft zu behandeln, dahinzudenken und derartige Sätze auch zu sagen. In Hinblick auf diese Art des Denkens und Fühlens von Unbedingtheit(en) gibt es eine erstaunliche Parallele von linker und ökologischer Politik. Niklas Luhmann hat diese Verbindung schon früh gesehen und in einem kleinen – fast schon etwas rotzigen – Text in der TaZ beschrieben.[10]

Für linke Politik hat Armin Nassehi diesen Zusammenhang mit dem Begriff des Sympathieparadoxons theoretisiert.[11] Der Begriff bezeichnet zum einen eine Unfähigkeit zur reflexiven Selbstbeobachtung, der eigene politische Standort auf einer Links-Rechts-Skala ist so wie er ist und kann logisch gar nicht anders gedacht werden. Politische Standorte anderer Akteure werden dadurch unverständlich, wenn sie nicht weiter links sind als der eigene. Das eigene Meinen bekommt dadurch etwas Unbedingtes, was Kompromisse, Notwendigkeiten des Aushandelns in ein schlechtes Licht taucht. Auch Positionen der Anderen, rechts des politischen Selbst geraten in einen Ruch des Unmoralischen, lassen sich nur schlecht denken. Als Erklärung für politisches Anderssein hält dann viel zu oft die Moral her. Eine Moral, die dazu neigt, sich über die anderen zu erheben, die offenbar zu blind, zu desinteressiert oder so schlecht sind, dass sie alle die Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung, die Amoralität in der Welt nicht sehen. Im ungünstigen Fall werden diese Unbedingtheiten des politischen Denkens zu etwas Hermetischem. Die Unbedingtheiten der eigenen Positionen zu reflektieren, darüber nachzudenken, woher dieses Unbedingtheitenfühlen kommt, fällt oft schwer oder erscheint angesichts ihrer Richtigkeit von Anfang an als Zumutung. Denn gerade weil die Bezugspunkte politischen Denkens auf sachlich und normativ so Richtiges verweisen, misslingt es ja, die Unbedingtheit der damit verbundenen Geltungsansprüche in Frage zu stellen bzw. gestellt zu sehen. Dieses Misslingen kollidiert dann allerdings auf einer intellektuell-abstrakten Ebene mit einem Kontingenzprinzip demokratischer Politik, das besagt, dass man es in Betracht ziehen muss, dass demokratisch gesinnte Andere auch recht haben könnten.

Allerdings fällt es in der Praxis schwer, diesen Unbedingtheiten die entsprechende Geltung zu verschaffen, weil sie mit den Realitäten des Politikbetriebes, den Erfordernissen des Koalierens und Sich Arrangierens kollidieren oder auf organisationale Strukturen treffen, die ganz anderen Logiken folgen. Das missfällt aus einer linken, wie aus einer ökologischen Perspektive, denn manchmal passiert nicht das, was richtig wäre, es entsteht ein permanent schlechtes Gewissen in Bezug auf eigene Machtausübung, ja schon in Bezug auf die eigene Teilnahme am politischen Betrieb. Dieses Missfallen rührt daher, dass linkem Denken nach 1968 eine Faszination an, eine intellektuelle Ästhetisierung der eigenen Unbedingtheit eingeschrieben ist und sich dieses Muster auf ökologisches Denken übertragen hat. Aus einer derartigen Gefühlslage heraus ist es immer wieder schwer, sich vorzustellen, wie man eigentlich nicht oder auch nur weniger links oder ökologisch orientiert sein kann, nicht den Erhalt der Umwelt, der Biodiversität des Klimas in gleicher Weise priorisieren kann. Im politischen Handgemenge tendiert eine ökologisch gesinnte Linke dann oft schon einmal zu den oben schon genannten leicht kitschigen Äußerungen wie „die Natur verhandelt nicht“, „unite behind the science“ etc. und zu einem normativ urteilenden Politikerleben. Schließlich ist die Gesellschaft, in der wir leben, ja tatsächlich nicht sehr gerecht, könnte weltoffener sein und auch die Resultate naturwissenschaftlicher Forschung sind wie sie sind und sickern stets zu langsam in die politischen Willensbildungsprozesse ein, werden politisch verbogen oder gar ignoriert. Gesellschaftliche und technische Arrangements sind in der Tat nicht nachhaltig und gesellschaftliche Institutionen zu oft alles andere als diskriminierungsfrei oder geschlechtergerecht. Die wirtschaftlichen Strukturen, die Art und Weise, wie wir mit Dingen und Stoffen umgehen, ist deutlich veränderungsbedürftig und oft liegt der Gedanke nahe, dass viele der nötigen Veränderungen ohne den Kapitalismus besser möglich wären, insofern treffen sich linkes und ökologisches Denken auch entlang der Frage, wie man es mit dem Kapitalismus hält.

Als die Grünen eine ökologische und überwiegend linke Neuerweiterung des Parteiensystems waren, war für ihre Mitglieder die eben beschriebene Spannung aus intellektueller Unbedingtheit und politikpraktischer Bedingtheit noch recht gut auszuhalten, schließlich waren Grüne so viel besser, ökologischer, emanzipativer als alle anderen, in so vielen Hinsichten. Die Gegenwehr des etablierten Politikbetriebs war dann ja auch zum Teil hart, weshalb grüne Politikpraxis zunächst vor allem in einem Sichabgrenzen zum außergrünen Politikbetrieb bestand. Das schlechte Gewissen war zwar von Anfang an beständige Begleitung des Grünen Etablierungsprozesses, im Unterschied zu heute bezog es sich auf außerparlamentarische, -parteiliche Linke oder Ökos. Innerhalb des Parteiensystems gab es keinen Ort, auf den sich solche Kollektivgefühle hätten beziehen können und müssen und man konnte glauben, dass dieses schlechte Gewissen eben eine Folge der Parteiwerdung und Etablierung war. Der Gedanke, man könne es lindern, wenn man sich nur gut genug an alte Ideale erinnerte, lag und liegt da nahe. Viele in der Grünen Partei denken heute gerne kollektiv an diese gute alte Zeit zurück, meinen, in einer wie auch immer gerahmten, verklärten Vergangenheit, da habe es noch Werte gegeben. Hegemoniefähig gar sind solche Haltungen in Ex-Grünen Communitys, deren politischer Anspruch darin besteht, als Ehemalige den verbliebenen oder nachgekommenen Grünen moralisch und epistemisch weit überlegen zu sein. Sie finden im Gegebenen fast täglich Rechtfertigung, warum sie mit dem Austritt damals richtig gehandelt haben.

Fazit: Wo die Grünen im Herbst 2019 stehen – Plädoyer für eine anthropozäne Politik

Die Welt, aus der das inner- und exgrüne antiparteiische Ressentiment kommt, gibt es nicht mehr, die Grünen sind nicht mehr Fluchtpunkt politischer Unkonventionalitätsphantasien. Links der Grünen im Parteiensystem gibt es einerseits diverse Lifestyleoptionen, Partial­klonierungen der Grünen Partei (MUT, Mensch Umwelt Tierschutz (kurz Tierschutzpartei) etc.), die es vermögen, Teilaspekte Grüner Politik aufzugreifen und mit Unbedingtheits­phraseologie aufzuladen. Diese Parteien haben die Fluchtpunktfunktion übernommen. Sie gewinnen damit etwa 0,3 % bis 0,5 %, in Großstädten auch mal 2 % bei Wahlen und schafften es, hier und da durch Wegnahme einiger Prozentpunkte Rot-Grüne Mehrheiten zu gefährden oder gar zu vereiteln. Gravierender aber ist, dass es die Linkspartei und Die Partei gibt. Die Linkspartei führt das Linkssein im Namen und gebärdet sich als die bessere Linke, die Partei hingegen stellt ein Angebot für die Abgeklärten unter den GroßstadtbewohnerInnen bereit. Wo es bei der Linkspartei gelegentlich ins Sozialistisch-Pathetische, auch mal ins Populistische kippt, weiß man bei den AnhängerInnen der Partei, dass mit Rettendem von Seiten der Politik ohnehin nicht zu rechnen ist.

Es ist für Die Grünen nicht ganz einfach, der Erzählung von Links-, Klein- und Parteiparteien, die besseren Linken zu sein, qualifizierte Erwiderungen entgegenzusetzen. Für diese Schwierigkeit gibt es Gründe, die sich neben dem oben genannten Unbedingtheitsästhetisierungsproblem gut mit Hilfe von Armin Nassehis Konzept des Sympathieparadoxons theoretisieren und erklären lassen.

Grüne Selbstbeobachtung ist dann auch nicht gefeit vor derlei sympathieparadoxen intellektuellen Figuren, als auch sie gern mal dahin ausweicht, zu behaupten, eine Haltung sei nicht mehr wirklich oder richtig grün (wie oben angedeutet sind solche Gedanken aber noch weit stärker in der Grünen Fremdbeobachtung durch ehemalige Grüne präsent[12]). Auf die ökologische Frage und die Nichtbefassung mit ihr lässt sich dieser Denkzugang gleichermaßen anwenden. Eine Gefahr, auf eine dem Populismus innewohnende Variante von Unbedingtheitsansprüchen zu verfallen, stellt sich ein, schließlich ist es für Populisten genauso wenig zu verstehen, wie es sein kann, dass sie keine Mehrheiten erringen, wo sie doch meinen, das wirkliche Volk zu vertreten. Die Parallele liegt jedoch – das ist hier wichtig zu betonen – nicht auf einer inhaltlichen, sondern eher auf einer politikmechanischen Ebene.

Denn ein Grüner Populismus würde nicht wie der völkische Populismus, der die AfD prägt, bei einer Differenz von deutschem Volk und anderen zugewanderten Nichtdeutschen ansetzen, sondern bei der Konstruktion eines ökologischen Volkswillens[13], der sich gegen die kapitalistische oder von den industriellen Eliten verursachte Zerstörung von Natur und Klima wendet. Gleichwohl wäre er eine falsche Antwort darauf, dass politisches Dafürhalten und ökologisches Wissen miteinander zunächst einmal schwerlich in Einklang zu bringende Geltungshorizonte haben.

Die Unterschiedlichkeit der Geltungshorizonte von Wissenschaft und Politik besteht darin, dass Wissenschaft einem meritokratischen, auf Spezialisierung basierendem Legitimationsprinzip folgt und Politik einem demokratischen, auf Generalisierung basierendem. Im Unterschied zur Politik gibt es in der Wissenschaft keine allgemeine Instanz, die den spezialisierten Einzelinstanzen der Disziplinen übergeordnet ist und keine Institutionalisierung von Dissens.[14] Es wird also, wenn die Kopplung der beiden Felder enger wird neue und andere Übersetzungsinstanzen geben müssen, die die dezentrale Diversität wissenschaftlicher Expertise und ihre bei gleichen Bedingungen und Relevanzzuschreibungen fehlende Kontingenz ins demokratisch kontingente Politische übersetzen können. Wie auch immer diese Institutionen aussehen werden, sie müssen einen Dialog darüber ermöglichen, wie die naturwissenschaftlich herleitbaren Unbedingtheiten mit den betriebs­mäßigen Bedingtheiten eines demokratischen Politikbetriebs miteinander in Bezug gesetzt werden können. Schließlich lässt sich ein Überschreiten einer Zwei-Grad-Grenze nicht naturwissenschaftlich rechtfertigen, demokratische Politik, die ihre Einhaltung sicherstellt, zu rechtfertigen, dürfte bis auf weiteres aber nicht minder schwer durchzusetzen sein. Dennoch muss ihre Einhaltung politisch vermittelt und durchgesetzt werden, autoritäre Formen der Umweltpolitik, wie sie z. B. in Singapur auf kleinerer Bühne relativ erfolgreich angewandt werden, stehen im Rahmen demokratischer auf das Erringen von Mehrheiten angewiesener Politik nicht zur Verfügung. Pragmatische Systemtheorie spricht in diesem Zusammenhang von einem Zusammenspiel gesellschaftlicher Teilsysteme, bei dem es ja auch darum geht, die Teillogiken der gesellschaftlichen Felder aufeinander anzuwenden und dadurch dahin zu kommen, dass da draußen in der Gesellschaft mit dem Richtigen Erfolge erzielt werden.[15] Und in diesem Sinne geht es auch hier darum, Politik, ihre Verwaltung, Parteien und soziale Bewegungen in die Lage zu versetzen, Richtiges, zur Lage der Dinge Passendes, zu tun. Dazu muss Politik wissenschaftsbasierter werden und muss ein Übersetzungsverfahren entwickeln, wie sie Wissenschaft so adaptiert, dass dabei ein im Ergebnis demokratischer Modus wissensbasierten verbindlichen Entscheidens entsteht. Es geht also letztlich darum, das Versprechen der Wissensgesellschaft politisch demokratisch einzulösen.

Um dahin zu kommen, ginge es zunächst einmal darum, die richtigen Fragen zu formulieren. Und um das tun zu können, ist es nötig, Hakpunkte, oder kognitive Dissonanzen (wie oben beschrieben) klar und ohne Scheu vor Konflikten zu benennen, Politik muss dazu ihre Fähigkeiten zur Selbstbeobachtung verbessern. Der Unterschied zur alten präanthropozänen Politik läge darin, dass man Wissensbestände, die nicht gefallen, nicht einfach ignoriert oder suspendiert und dass man beginnt, reflexiv auf die Anwendungsmodi wissenschaftlichen Wissens im politischen Raum zu schauen.[16] Dass es dabei auch zu schwierigen Debatten kommen kann, wenn bis dahin vorhandene Elastizität in Hinblick auf die wissenschaftlichen Gehalte politischer Positionsbildung schwindet, sehen gerade die Grünen angesichts ihres inneren Widerstreits über Themen wie Kassenfinanzierung von Homöopathie oder Genome Editing. Dennoch, auf diesem Weg könnte es gelingen, zumindest das Sympathieparadoxon auszutricksen; denn, wenn Konflikten eine moralische Dimension fehlt, fällt die Zumutung, dass andere anders denken, gar nicht so groß aus und ist dadurch gut auszuhalten. Zugleich wird die eigene Position stärker, wenn man in der Lage ist, argumentativ darzustellen, dass das eigene Abwägungsergebnis ohne Suspendieren von Wissensbeständen zustande gekommen ist und man selbst nicht auf eine strategisch selektive Aneignung von Wissen angewiesen ist.

Entscheidend wäre es dann, für die jeweiligen Entscheidungsprobleme den Punkt des Unbedingtheit-Bedingtheits-Übergangs zu identifizieren; denn das ist der Punkt, an dem die Kontingenz des Politischen in die Welt eintritt. Anthropozäne demokratische Politik wäre damit davon ausgemacht, dass man sich über den Punkt, von dem an die Meinungen auseinandergehen können, einig ist. Das wäre dann der gemeinsame Grund, der dem politischen Wettstreit bereitet ist. Gleichzeitig würde das heißen, dass der Streit über diesen Punkt dem Politischen entzogen ist, weil es wenig Sinn macht, über Dinge politisch zu streiten, die politisch nicht beeinflusst werden können. So wie es wenig Sinn macht, politisch darüber zu streiten, ob die Erde kreisförmig oder eine Scheibe ist, würde es dann auch kaum Sinn machen, darüber zu streiten, ob es einen anthropozän beeinflussten Treibhauseffekt gibt.

Ein politischer Alltag wäre dann möglich, der aus dem Übergang vom Unbedingten zum Bedingten Energie zieht und Demokratie als Ressource für sich entdeckt und damit die Ästhetisierung eigenen Unbedingtheitsempfindens hinter sich lässt. Ich möchte vorschlagen, nach Formen zu suchen, wie das möglich werden kann.

 

[1] Vgl. Christopher Bayly (2004) The Birth of the Modern World. 1780-1914, Oxford: Blackwell Publishing.

[2] Vgl. Jan de Vries (1994): The Industrial and the Industrious Revolution“; Journal of Economic History 54/2, 249 – 270.

[3] Ein wesentliches Innovationspaket dieser Zeit war z. B. Frühstück mit seinen Bestandteilen Tee und Kaffee und, um diese Getränke zu süßen, Zucker. Zudem stieg dadurch die Nachfrage nach Feingebäck und Porzellan. Die Verbreitung dieses Konzeptes hatte globale Konsequenzen im Sinne eines Globalisierungsschubes und die Stärkung von Handelwegen und Sklavenökonomien zur Folge (Bayly 2004; S. 50).

[4] Bayly 2004, 143 ff..

[5] Den Begriff Medien verwende ich, um damit die primären Hebel staatlichen Handelns zu bezeichnen. Die jeweiligen Teilbegriffe der Medien stehen nicht für sich alleine, sondern bilden notwendig ein Begriffspaar, das nur durch das Aufeinanderwirken seiner Teile verstanden werden kann. So war Macht nichts Neues, als der moderne Staat 1.0 entstand neu war aber, dass Macht nun begann, einer Bindung durch Recht zu unterliegen, (wobei Recht hier nicht in einem positivistischen Sinne als Gesetz, sondern in einem wertbezogenen im Sinne einer antipositivistischen Begriffstradition verstanden werden soll). Geld hat auch schon der Staat 1.0 gebraucht und eingesetzt, nicht jedoch in Verbindung mit Teilhabegewährung. Auch ist immer wieder der zumeist ideologisch motivierte Versuch unternommen worden, die innere Bindung der zwei Teilbegriffe eines Mediums aufzubrechen. Der Faschismus war auch der Versuch, die Bindung von Macht durch (wertbezogenes nicht formales) Recht aufzubrechen und eine wertebefreite Politik zu erlauben, der Neoliberalismus ist als ein Versuch zu lesen, die Bindung bzw. Beauftragung von Geld durch Teilhabeansprüche aufzuheben.

[6] Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts waren auch Reaktionen auf den entwickelten modernen Staat 2.0, sie wichen ab in Hinblick darauf, den Entwicklungspfad der Teilhabegewährung gegenüber allen zu beschreiten und versuchten, in Bezug darauf Rückabwicklungen vorzunehmen.

[7] Neben dieser auf gesellschaftliche Naturverhältnisse bezogenen umweltbezogenen Herleitung des modernen Staates 3.0 gibt es auch noch eine technologische, die darauf abstellt, dass seit kurzem normative Erwägungen und gesetzliche Regelungen in Hardware fest eingebaut werden können. Autos ließen sich danach z. B. im Parkverbot nicht mehr abschließen und würden in der Stadt einfach nicht mehr schneller als 50km/h fahren können, ethische Präferenzen ließen sich in die Notfallalgorithmen der Selbstfahrfunktionen integrieren. Damit würden gesetzliche und normative Regelungen möglich, deren Befolgung auf eine nichtkontingente Weise technisch sichergestellt ist. Das hätte neue Anforderungen für gesetzgeberische Praxis zur Folge, die heute noch gar nicht absehbar sind. Dies zu erörtern, kann dieses Papier nicht leisten, sich darüber Gedanken zu machen, ist insbesondere eine Aufgabe für JuristInnen. Vgl. Yuval Noah Harari (2018): 21 Lessons for the 21st Century, London: Penguin Random House, pp. 57-89.

[8] Woraus, wie man am Beispiel der Sozialdemokratie im Zusammenhang der Entstehung des Modernen Staates 2.0 sehen kann, keine Hegemonie resultieren muss.

[9] Was die Grüne Partei und Klientel allerdings nicht bei allen Themen schafft: So ist in Grünen Diskussionen Evidenz, wenn sie Gen- oder Nukleartechnik betrifft, auch schon einmal weniger gern gesehen. Insofern lässt sich eben nicht umstandslos sagen, die Grünen seien eine Partei wissenschaftsorientierter Evidenz. Da schlacken der Grünen Partei Residuen ihrer Herkunft aus technokratiekritischen Bewegungskontexten an den Beinen, Evidenzorientierung trifft bei diesen Themen in Teilen der Partei auch schon einmal auf Unbehagen. Vgl. Paula Luise Piechotta/Till Westermayer (2018): Vom schwierigen Verhältnis zwischen Grün und Wissenschaft; url: https://www.gruene.de/artikel/vom-schwierigen-verhaeltnis-zwischen-gruen-und-wissenschaft; Zugriff am 16.10.2019.

[10] Vgl. Niklas Luhman (1988): Njet Set und Terror Desperados; taz Nr. 2575 vom. 04.08.1988, S. 11-12.

[11] Das Sympathieparadoxon findet sich seit etwa zwei Jahren in verschiedenen Texten Armin Nassehis, zuerst und heftig diskutiert wegen der verunglückten Überschrift hier: https://www.zeit.de/kultur/2017-07/g20-linke-gewalt-kapitalismuskritik-globalisierung-essay. Die bislang ausführlichsten Textpassagen dazu stehen in seinem im Mai vergangenen Jahres im Murrmann Verlag erschienenen Band „Gab es 1968? Eine Spurensuche“.

[12] Und auch in der Zeit vom 07. August 2019 schwang sich ein Artikel zu der Beobachtung auf, die Grünen seien längst nicht mehr wirklich Grün und schon lange nicht mehr radikal und in Wirklichkeit eine Mogelpackung. Vgl. Elisabeth Räther: Der Schein trägt; url: https://www.zeit.de/2019/33/gruene-grundsatzprogramm-klima­schutz-tierschutz-robert-habeck.

[13] Vgl. Will Davies (2019): Green Populism? – Action and Mortalitiy in the Anthropocene; url: https://www.cusp.ac.uk/themes/m/m1-12/#1475182667098-0328ae0f-4bcbf2c7-159efa7b-6ee717f8-b429; letzter Zugriff am 24.09.2019.

[14] Bettina Heintz (2014): Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit. Zur weltgesellschaftlichen Bedeutung globaler Interaktionssysteme; in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft“ (2014), S. 236.

[15] Vgl. das von Peter Unfried mit Armin Nassehi geführte Interview in der taz vom 15. Juni: URL: https://taz.de/Soziologe-ueber-Klimawandel/!5600327/, Zugriff am 25.09.2019.

[16] Vgl. Robert Hoppe (2005): Rethinking the Science Policy Nexus; in. Poiesis & Praxis 3/2005; 199-215.