Als ich im Januar die Gedankenskizze über anthropozäne Politik zu ende schrieb nahm ich nicht an, dass ein Ernstfall dessen, was ich im letzten Teil des Textes skizziert habe, so bald eintreten würde. Ein Virus von einem Tiermarkt einer weitgehend ungekannten chinesischen Millionenstadt überspringt die Artengrenze und nistet sich bei Menschen ein. Das Virus stellt vieles auf den Kopf, das Leben der Menschen, die Finanzplanung der Staaten wird disrumpiert, Politik wird plötzlich wieder wichtig, anders und existenzieller wichtig als wir diesvor kurzem noch für möglich hielten. Diese neue Relevanz des Staates alles macht es notwendig, noch einmal mehr und anders über den demokratischen Staat nachzudenken, wofür wir ihn brauchen, was wir von ihm wollen und wer oder was, welche Diskurse, Annahmen und Haltungen ihn einkreisen, vielleicht gar bedrohen. Große Stücke haben wir ja alle nicht auf ihn gehalten, wir haben den demokratischen Staat als Selbstverständlichkeit hingenommen, was einerseits gut ist, andererseits seine Kehrseite hat, weil man die öffentliche Sache damit ihren Beamt*innen überlässt. Viele haben dem Staat aus verschiedensten Gründen misstraut. Eine im weiteren Sinne neoliberale Lehre hatte ihn im Verdacht, hypertroph und ineffizient zu sein, New Public Management ein heute fast schon vergessenes Buzzword der 1990er und 2000er Jahre wollte seine Behörden dem privaten Vorbild anverwandeln, wirtschaftlicher und effizienter machen. Betriebswirtschaftslehre zog in den verwaltungswissenschaftlichen Diskurs ein und hat überall in Universitäten in Kliniken, im Gesundheitssystem Spuren hinterlassen. Nicht minder misstrauisch in Bezug auf den Staat ist die gouvernementalitätskritische Perspektive nach der der Staat Instrument kapitalistischer Eliten sei, dazu neige, Herrschaft auszuüben, wo es besser keine geben sollte und danach trachte, seine Herrschaft auf immer mehr Bereiche, auch die des Lebens und das Leben selbst auszuweiten und sogar in das innere der Menschen auszudehnen. Corona heißt es aus der Perspektive, sei der biopolitische Ernstfall par excellence, habe man ja immer gewusst, das so was irgendwann mal kommen würde. Und dann ist der demokratische Staat seit Neuestem einem coronarschmittianischem Druck ausgesetzt, zur Entschiedenheit entschiedene Exekutiven und Legislator*innen rufen nach Konsequenz, Sperren und Kontaktverboten, herunterfahren wollen sie die Gesellschaft, neue Metaphern über die bei anderer Gelegenheit noch zu reden sein wird, fluten den politischen Diskurs.
Ist die Coronakrise nun also wirklich das Ende des Neoliberalismus? Mal sehen, nach 2008 wurde es ja schon einmal ausgerufen. Wie dem auch sei, und was immer Neoliberalismus auch ist, eine Demokratielehre war er nie, eine neoliberale Skepsis gegen Demokratie, jedenfalls, wenn da zu viel falsche Leute wie Gewerkschafter*innen mitmachten, gab es schließlich immer. Denn dann lag die Gefahr allzu vieler Umverteilung in der Luft, von makers zu takers etwas wegzunehmen, wie es z. B. der gescheiterte Republikanische Prasidentschaftskandidat Mitt Romney einmal gesagt hat. Der Staat war ihnen allemal im Verdacht, so was all zu gerne zu machen, aus sich selbst ein Motiv zur Umverteilung zu entwickeln. Sich mit sozialer Gerechtigkeit überhaupt nur auseinanderzusetzen sei sinnlos, weil, so suggerierte die reine neoliberale Lehre,, weil der Markt, sofern er nicht von Monopolen verzerrt ist, halt die Verteilung produziere, die er produziert. Im Ergebnis werden Menschen damit auf das reduziert, was sie ökonomisch machen und auslösen, Organisationen auch. Schon Hayek meinte, dass im Zweifelsfall dieses Reduzieren des Sozialen auf das eine Wesentliche über Zwang geschehen müsse, weil niemand von Natur liberal im neoliberalen Sinne sei. In den meisten demokratischen Gesellschaften reichten aber die Verheißungen der Konsumentensouveränität, aus Staatsperspektive werden Bürger zu Kunden. Politik wird nach Möglichkeit unsichtbar gemacht, statt Konflikte auszutragen habe man Moralphilosophen miteinander diskutieren und Geschäftsleute miteinander verhandeln lassen, würde eine Schmittsche Interpretation des Neoliberalismus lauten.
Zum Problem in Coronazeiten wird Neoliberalismus nun, weil er Organisationen des Gesundheitssystems zuvorderst die Krankenhäuser zu Organisationen, die Geld verdienen sollen, gemacht hat. Redundanzen galt es aus diesem Blickwinkel zu vermeiden, Bevorratung sollte es nur soviel geben wie nötig, weil ja alles just in time zu besorgen sei, wenn man es brauche. Wenn Corona jetzt die Krankenhäuser allzu schnell an ihre Grenzen bringt, ist das auch eine Folge betriebswirtschaftlicher Durchdrungenheit der Krankenhäuser im Rahmen neoliberal inspirierter Steuerungsmodell. Wenn heute in den europäischen und nordamerikanischen Höherlohnvolkswirtschaften keine Maschinen verfügbar sind, mit dene man Schutzmasken produzieren kann, ist das nicht minder Folge betriebswirtschatlicher Kalküle und Kostenüberlegungen. Es hat sich schlicht nicht gelohnt, solche Gerätschaften in Europa oder Nordamarika aufzustellen, wegen der Kosten. Nach der Krise wird man sich darüber unterhalten müssen, ob ein aus Abgaben der Arbeitnehmer*innen finanziertes gesellschaftliches Teilsystem wirklich idealerweise von profitorientierten Organisationen bevölkert werden sollte und ob für Organisationen des Gesundheitssystems nicht wieder andere Steuerungsparadigmen Anwendung finden sollten.
Ein linkes Geschwister des Neoliberalismus ist die antigourvernmentalistische Staatskritik. Spiegelverkehrt zum Neoliberalismus sieht sie im demokratischen Staat nicht das Problem, dass dieser zuwenig neoliberal ist und die falschen Interessen aufgreift, sonder dass er (zu) neoliberal ist. Die Kritik der Gouvernmentalität sieht den Staat als Sachwalter des Neoliberalismus, der danach trachte seine eigene innere Logik in die Menschen hinein, in ihre Körper aber noch mehr in ihre Selbstbilder hinein zu verlängern. Deshalb sollen die Selbste unternehmerisch werden, im neoliberalen Sinne diszipliniert werden, nicht mehr nur die Körper wie beim füheren Foucault, sondern der Geist der Menschen. Beim frühen Foucault hieß das Biopolitik, später ab Mitte Ende der 1970er Jahre hat Foucault das Konzept der Biopolitik zunehmend aufgegeben und an seine Stelle trat die gouvernementalistische Theorie. Philip Sarasin hat vor einigen Tagen gezeigt, dass auch das Foucaultsche Konzept der Biopolitik, welches auf einen ersten Blick eine Anwendbarkeit auf die jetzige Situation nahelegt, nicht eins zu eins anwendbar ist. Lepramodell, Pestmodell und Pockenmodell nennt er drei biopolitische Strategien, die im Laufe der Zeit (und auch jetzt im Angesicht von neuartigen Coronaviren) zur Anwendung kamen. Das historisch erste Modell (das Lepramodell) war der Versuch das Kranke aus der Gesellschaft herauszuschaffen, vor den Toren der Stadt zu kasernieren. Das Zweite Modell (das Pestmodell) war dann der Versuch, das Krankmachende zu eliminieren, indem man Gesellschaftliches soweit wie möglich unter Kontrolle brachte, beim dritten Modell (dem Pockenmodell) wurde zunehmend erfolgreich versucht, dem Krankmachenden mit Wissenschaft zu Leibe zu rücken, zu verstehen, was es ist und somit bekämpfen zu können. Der Anspruch das Krankmachende zu Eliminieren wurde zugunsten des Anspruches es kontrollieren und verstehen zu können aufgegeben. Alle drei Modelle sind in der aktuellen Diskussion zu Corona in der Debatte, weil der Pockenweg mangels Impfstoff und Wissen noch nicht beschreibbar ist, allenfalls in Taiwan, mit Einschränkung auch Südkorea konnte der Pockenpfad eingeschlagen werden, weil es gelang, genau zu wissen, wer die infizierten sind, wo sie sind und was sie taten. In Ermangelung solcher Daten schwenken die europäischen Demokratien auf das Pestmodell ein und versuchen das gesellschaftliche Leben zu kontrollieren (herunterzufahren) um nicht in die Situation zu kommen über ein Lepramodell (das hieße die Kranken ohne allzu gute Heilungschancen einfach sterben zu lassen) einschwenken zu müssen.
Lepra- und Pestmodell sind eines demokratischen Staates eigentlich nicht würdig, dementsprechend gab es Zögern zu solchen Lösungen zu greifen.
Dieses Zögern ist Theme derer, die sich den Coronarschmittianismus auf die Fahnen geschrieben haben. Christoph Möllers hat in einem Essay auf dem Verfassungsblog von einen kaum übersehbaren Vergnügen politischer Entscheidungsträger an einer Semantik des Ausnahmezustands gesprochen und dieses Vergnügen einen „Schmittianismus für den höheren Dienst“ genannt“. Er meint damit die schon oben angerissene Entscheidung zur Entschiedenheit, die sich der eine oder andere in den letzten Wochen anheftete. Egal aus welcher Perspektive durchhallte die Republik ein universelles zu wenig zu spät Gerufe. Die Überzeugung, der Staat sei zu langsam, zu zögerlich war Allgemeingut, als sei Deutschland über Nacht zu einem Land der Ausgangssperre- und Ausnahmezustandsexperten geworden und verschwisterte sich aufs Angenehmste mit hergebrachter Staatsbenörgelei, die im Staat die Quelle ewiger Ineffizien sieht (insofern gibt es auch eine Verbindung von neoliberaler und coronarschmittianischer Staatskritik). Nicht nur der höhere Dienst – wie es Möllers sagte – war da angesprochen und innerlich aufgewertet auch der mittlere und gehobene, sofern er eine Uniform hatte und ein Regelwerk, das das Sitzen auf Parkbänken oder Picknickdecken zu sanktionieren bereit war, zur Hand hatte, kam da auf seine Kosten. Da ist einiges über das Ziel hinausgeschossen und noch nicht alles so präzis, wie es die Situation erfordert. Entscheidend wird sein, wie Staat und Gesellschaft von diesem Gipfel des Ausnahmerlebens wieder herunterkommen und wie der Weg dahin aussehen wird.
Ob danach alles anders sein wird oder wenigstens vieles besser, wissen wir heute noch nicht. Es besteht aber Anlass zu einer nicht ganz unberechtigten Hoffnung, dass es gelingen kann, den demokratischen Staat wiederzuentdecken als etwas, das Sache aller ist, das es nicht nur einzuhegen, zu beargwöhnen oder zu ermächtigen gilt. Dies muss ein Staat sein, der besser dazu in der Lage ist, wissenschaftliches Wissen in Politik einfließen zu lassen, kein Kompetenzcluster virologischer Governance aber ein Gemeinwesen, dass, was wissenschaftliches Wissen betrifft, auf der Höhe der Zeit ist. Hoffentlich ist es auch ein Staat der in der Lage ist, Regelungen zu treffen, die auch dann Bestand behalten können, wenn sie nicht elastisch zur Anwendung gebracht werden, sondern eins zur eins angewandt werden: Das heißt, Regelungen müssen so gut gemacht sein, dass das geht. Es wir nötig sein zu Regelsetzungen zu gelangen, die weniger an staatlicher, gesetzgeberischen Eigenlogiken und mehr an Sachverhältnissen orientiert sind. Sollte das eine Folge der Coronakrise sein, wäre bei allem Leid und allem Schaden, den sie mit sich bringt auch etwas zu gewinnen.
Thomas Biebricher (2012): Foucault, Gouvernmentalität und Staatstheorie; TranState Working Paper No. 164; Universität Bremen: SFB 597 Staatlichkeit im Wandel.
Jens Hacke (2019): Carl Schmitt: Antiliberalismus, identitäre Demokratie und Weimarer Schwäche; in: Zentum Liberale Moderne (Hg.): Das Alte Denken der Neuen Rechten. Die langen Linien der antiliberalen Revolte; Berlin; S. 19-30.
Thomas Lemke (o. J.): Gouvernmentalität; url: http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Gouvernementalit%E4t%20_Kleiner-Sammelband_.pdf; Zugriff am 31.03.2020.
Christoph Möllers (2020): Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus; Verfassungsblog 26.03.2020 (url: https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/; Zugriff am 31.03.2020).
Jan-Werner Müller (2019): Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus; Berlin: Suhrkamp.
Philipp Sarasin(2020): Mit Foucault die Pandemie verstehen; Geschichte der Gegenwart Erstveröffentlichung am 25.03.2020; url: https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/
Carsten v. Wissel (2020): Anthropozäne Politik. Eine politikwissenschaftliche Gedankenskizze (in diesem Blog)