Es ist kein Zustand: Über Wissenschaftsfreiheit

Über Wissenschaftsfreiheit wird immer dann viel gesprochen, wenn sich Bedrohungslagen einstellen. Fehlen diese, dann fehlt für Politik ein Anlass, darüber zu reden. Jedenfalls für demokratische Gesellschaften gilt dies. Dabei galt immer, dass selbst in der Demokratie Wissenschaftsfreiheit mit Ambivalenzen daherkommt, denn immer bedeutet sie, dass Wissenschaftler:innen etwas machen können, was bestimmten Politiktreibenden womöglich nicht gefällt. Von daher ist aus Sicht politischer Akteure Wissenschaftsfreiheit als abstraktes Prinzip stets hoch angesehen und etwas weniger hoch, wenn es konkret wird. Schließlich steht sie in einem Spannungsverhältnis mit dem Streben, Wissenschaft zu steuern, die für jetzt wichtige gehaltenen Forschungsergebnisse zu bekommen. In politischen Parteien bleibt Wissenschaftspolitik auch deshalb mehr ein Thema für Fachpolitiker:innen etwas am Rande der Aufmerksamkeiten der meisten Mitglieder und Professionellen. Jede politische Partei hat ihre Probleme mit der Wissenschaftsfreiheit, bei den einen ist es die Genforschung oder sind es die Tierversuche, die man gern besser kontrolliert hätte, bei den anderen poppt immer wieder die Sorge auf, zu freie Wissenschaftler:innen forschten irrelevantes, brotloses Zeug, welches der Gesellschaft, genauer den darin wirtschaftlich Tätigen, nichts oder zu wenig bringe. Deshalb gibt es immer wieder Versuche aus der Politik, Wissenschaft dahin oder dorthin zu nudgen, mit Verbotsversuchen, mit Geldströmen oder Hochschulgesetzen. Die Frage ist jeweils, ob Leute damit erfolgreich sind, inwiefern dies dann ein Problem wird und ob sie in die Lage kommen, der Demokratie oder dem Wissenschaftssystem nennenswert Schaden zuzufügen. Und diese Gefahr ist immer wieder dann besonders groß gewesen, wenn demokratische Gesellschaften großen gewaltbewährten Drohungen gegenüberstanden. Insofern ist es kein Zufall, dass die zwei Schlüsseldokumente der US-amerikanischen Wissenschaftsfreiheitsdebatte aus den Jahren 1915 und1940 stammen.[1]

Aus US-amerikanischer Sicht ist der Politikgegenstand Wissenschaftsfreiheit eine deutsche Erfindung. In Deutschland wurde in den 30er Jahren des 19. Jahrhundert war erstmals etwas ausgearbeitet, was den Professoren der Universitäten ein Recht in die Hand geben sollte, sich der Zugriffe von Kirche und Landherr zumindest insoweit zu entziehen, dass diese die freie Zirkulation von Wissen nicht mehr restringieren konnten. Wissenschaft sollte in die Lage kommen, sich gemäß ihrer Eigenlogik zu entfalten. Dies war einerseits in Preußen mit Einschränkungen möglich andererseits dort, wo eine Universität von mehreren kleineren Herzogtümern getragen wurde (wie zum Beispiel in Jena) kaum möglich aber, wo ein Landesherr meinte, sowas wie eine reaktionäre Wende vollziehen zu wollen, wie in Hannover. Aber Hannover machte damit insofern Geschichte, als das Haus den Anlass für das Einschreiten der weltbekannt gewordenen Göttinger Sieben schuf: Sieben Professoren, die der Landesherr nach ihrer Remonstration rausschmiss und z. T. sogar des Landes verwies, weil sie gegen das, nach dem Ender der Personalunion mit dem britischen Königshaus in Kraft tretende Staatsgrundgesetz protestierten.[2] Kurz nach ihrem Rausschmiss wurden sie vom preußischen König empfangen.

Indessen blieb jenseits des Atlantiks Wissenschaftsfreiheit ein Nischenthema, das erst 1915 seinen Platz in den Aufmerksamkeitsökonomien einzunehmen vermochte. Streitgegenstand war damals, ob Stifter missliebige Professoren heraussetzten können, wenn diese Dinge taten, die den Stiftenden gegen den Strich gingen. Viele fanden, Hausmeister und Laboranten unterlägen ja auch einem Gebot, sich nicht den Interessen ihrer Arbeitgeber:innen zuwider zu verhalten, und warum sollte für Professoren etwas anderes gelten? 1915 war in der New York Times sinngemäß zu lesen, dass, wenn es diesen Liberalen nicht passe, dass Stifter verfügten, was in ihren Universitäten gelehrt werde, sollten sie doch selbst Stifungsuniversitäten aufsetzen, dort könnten sie bis ans Ender der Tage ihr sozialistisches Zeug lehren lassen(wörtlich New York Times vom 20.06.1915:  … „nobody would interfere with the full freedom of the professors, they could teach Socialism and shiftlessness until doomsday without rerstraint”).[3]

Die Debatte in den USA ging dann aber noch weiter und war dann bis 1940 als es wieder Krieg gab an einem Punkt angelangt, an dem genug (landestypisch utilitaristische) Aspekte gefunden waren, Wissenschaftsfreiheit und Demokratie miteinander zu verbinden zu können (was sich in Hinblick auf den nach 1945 ins Haus stehende Kalten Krieg als ausnehmend praktisch erwies). Anders als in Deutschland hatte die amerikanische Debatte immer wieder damit zu ringen, dass dort die Trennung von Wissenschafts- und Meinungsfreiheit weniger eindeutig war und unklar blieb, ob Wissenschaftsfreiheit nicht eigentlich nur ein bloßer Unterfall der allgemeinen Meinungsfreiheit war. Stets stand die Frage im Raum, was Erstere von Letzterer unterscheide und anders als in Deutschland wurde stets nach Argumenten gesucht, warum freie Wissenschaft nützlich ist, so wurde z. B. Lehrfreiheit mit dem Argument begründet, dass Universitätslehre sich an die potentiellen Entscheidungseliten der Nation wende. Posts Essay stellte auf drei womöglich vier Momente von Academic Freedom ab: Forschungsfreiheit, Lehrfreiheit, Freedom of extramural utterance und Studienfreiheit. Wenig überraschend dürfte sein, dass die beiden letzten Freiheiten eine geringere Rolle spielten.

In Deutschland hatte sich eine andere Semantik der Wissenschaftsfreiheit etabliert, die anders als in den USA nicht progressiv, sich staatlicher oder stifterischer Kontrolle erwehrend ausfiel, sondern eher konservativ mit dem Rücken zur Gesellschaft aufgestellt war. Ihr Hauptproblem nach 1968 war, Wissenschaft als wertneutrale Kraft gegen eine Bedrängnis durch von soziale Bewegungen, Studierenden und Aktivist:innen vorangetriebenen Agenden zu bewahren. Diese Denkweise ist tief in den professoralen Hierarchien der Universitäten und Wissenschaftsorganisationen verwurzelt und einer politikfernen Selbstbeschreibung des Wissenschaftssystems verpflichtet, nicht zuletzt als Reaktion auf NS-Verstrickungen deutscher Professoren vor 1945. Von dort aus sickerte sie in die wissenschaftspolitischen Diskurse und erzeugt das Bild einer Wissenschaft, die mit Politik nichts  oder zumindest möglichst wenig zu tun habe und der Politik fern bleiben solle. Daraus entsteht die negative politische Epistemologie einer Wissenschaft, die nicht politisch, nicht aktivistisch sein will, sondern sich als reine Wissenshaft sieht.

Diese Wissenschaftsfreiheitssemantik schien im Namen des  Bund (es)Freiheit der Wissenschaft auf[4] hat sich aber auch mit dem neueren Netzwerk Wissenschaftsfreiheit[5] oder den Interventionen eines Peter Strohschneider durch die Jahre gerettet. Stets wurde Wissenschaftsfreiheit dabei als ein Gut verstanden, das man vor einem Zugriff studentischer Aktivisten, später auch vor Protagonisten einer Transformativen Wissenschaft zu schützen habe.[6]

Die Diskussion, ob Wissenschaft aktivistisch sein kann oder gar soll, oder wenigstens sein darf, gibt es immer noch, Amrei Bahr hat sie vor ein paar Tagen aufgegriffen[7] und dabei auf einen Konflikt verwiesen, den es schon lange gibt. Sie zeigt, wie die Forderung  als Wissenschaftler:in nicht politisch sein zu sollen ins Leere läuft, weil sie ihrerseits politisch ist. So hat auch Leonhard Dobusch (ein Betriebswirt aus der der Organisationssoziologie nahestehenden Sydow-Schule) schon vor zwei Jahren nahegelegt, dass Aktivismus für sich genommen gar nicht das Problem sein könne, sondern die Einhaltung wissenschaftlicher Standards. Wenn diese gegeben sei, gebe es auch bei Aktivismus nichts zu meckern, denn irgendwoher müsse angesichts einer Vielzahl von Möglichkeit ein Motiv zu forschen ja kommen.[8]

Aber anders als es ein konservativliberalistischer Diskurs suggerieren mag, gibt es auch und gerade in Deutschland eine Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit, die nicht von links oder sozialen Bewegungen kommt. Unter dem Namen Fördergeldaffäre ist sie für kurze Zeit ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Fast übersehen wurde dabei, dass es sich dabei nicht (nur) um Auswüchse eines parteiliberalen Ministerialaktivismus gehandelt hatte, sondern um das Ergebnis einer weltweiten Bewegung eines libertär inspirierten mehr oder weniger latent autoritären Postliberalismus, der sich mittels eines Zusammentragens von Feindeslisten politischer Gegner zu entledigen sucht.[9] Das gab es nicht nur und noch nicht einmal zuerst in Deutschland, auch die Cameron Regierung in Großbritannien ging seinerzeit so vor.[10] Inwiefern dies in den Zusammenhang einer postdemokratischen Wende oder (nur) in den eines zunehmen autoritärer werdenden Libertarismus[11] gehört, ist an anderer Stelle zu klären. Als sicher kann aber gelten, dass deutscher Ministerialbetrieb jenseits von FDP-bevölkerten Ingroups keines falls anonym dagegen sein dürfte, postdemokratisch auszurutschen, das zeigt die eine oder andere für die Frage der Wissenschaftsfreiheit zentrale Teildebatte, die es jetzt gibt und auch die Auswertungen der Wire-Chats der BMBF Mitarbeiter:innen haben ja gezeigt, dass die Debatte auch hausintern hätte bleiben können, wenn sie nicht mit so viel ideologischer Emphase vorangetrieben worden wäre oder die Hausspitze etwas mehr Geschick an den Tag gelegt hätte.

Es bleiben angesichts dessen was heute politisch Zeitenwende genannt wird mehr Fragen als Gewissheiten. Kann man noch mit russischen Partnern forschen, ist so z. B. eine der damit verbundenen Fragen. Überaus unklar ist, wie man sie beantwortet und vor allem, welche Formate geeignet sind, sie zu besprechen. Ob da eher eine Schließungslogik im Vordergrund stehen sollte, indem man die Verlautbarungen und proputinistischen Ergebenheitsadressen von russischen Institutsleitungen für bare Münze nimmt oder ob man eine Kooperationslogik stark macht, die bei konkreten Forschungskooperationen und Erfahrungen, die man dort mit konkreten Leuten macht ansetzt. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es der Lösungen für solche Probleme bedarf, nicht nur, weil es dabei nicht nur um deutsch-russische Forschungskooperationen geht, sondern auch um tausende chinesische Wissenschaftler:innen, die sich in Westeuropa befinden.

Aus der Schwierigkeit solcher Fragen wird auch deutlich, dass Wissenschaftsfreiheit alles andere als ein Zustand ist. Die Frage, ob Leute sie wahrnehmen, ist zwar auch ganz interessant, viel wichtiger aber ist m. E., mit welcher politischen und organisationalen Praxis man sie immer wieder herstellen kann. Denn alle, die Wissenschaftspolitik in der Demokratie betreiben ,sind für sie verantwortlich und auch all die, die Organisationen des Wissenschaftssystems vorstehen, auch und insbesondere dann, wenn Wissenschaftsfreiheit sich als politisch sperrig erweist. Demenstsprechend gibt es auch sich immer wieder neu entwickelnde Fragen und/oder Bedrohungslagen von Wissenschaftsfreiheit auch deshalb, weil sich ihr Gehalt immer wieder mal ändern kann.[12]

[1] Das war zum einen das und dann die von der AAUP erstmals 1915 vorgelegte Declaration of Principles on Academic Freedom and Tenure (url: https://www.aaup.org/NR/rdonlyres/A6520A9D-0A9A-47B3-B550-C006B5B224E7/0/1915Declaration.pdf)  und dann1940 das Statement on Academic Freedom an Tenure (url: https://www.aaup.org/report/1940-statement-principles-academic-freedom-and-tenure) Vergl. Robert Post (2006): The structure of academic freedom; in: Beshara Doumani (ed.): Academic Freedom after September 11, pages 61-106; New York: Zone Books.

[2] Vergl. Hans Werner Hahn (2013): Die Göttinger Sieben. Ein Beispiel für Zivilcourage; url: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845253886_51.pdf?download_full_pdf=1, letzter Zugriff am 09.12.2024.

[3]Zitiert nach Robert Post, S. 66.

[4] Dies war eine von 1970 bis 2015 existierende von Professoren dominierte Vereinigung, die hauptsächlich an (westdeutschen) Universitäten vertreten war. Dem Bund Freiheit der Wissenschaft gehörten Mitte der 1970er Jahre etwa 5000 Mitglieder an. Ganz überwiegend war der BFW eine Vereinigung antikommunistischer der Reform der Universit ablehnend gegenüberstehender Professoren, prominente Mitglieder waren Ernst Nolte, Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal, jüngere Nachwuchsmitglieder waren z. B. der spätere Bundespräsident Roman Herzog, Hermann Lübbe oder Alexander Schwan.

Die einschlägige Niederlassung an der FU-Berlin nannte sich Notgemeinschaft für eine freie Universität (NofU) und ist meinem studierenden Ich als den damaligen Akademischen Senat dominierende Professorenliste namens Liberale Aktion (LA) begegnet. Die LA stellte seinerzeit mit dem späteren Berliner Innensenator Dieter Heckelmann den FU-Präsidenten.

Es gibt eine Dissertation des Potsdamer Historikers Nicolai Werhs dazu: https://www.wallstein-verlag.de/9783835314009-protest-der-professoren.html , wer etwas mehr über diese Vereinigung wissen will sollte die konsultieren. In Hinblick auf die einschlägigen Wikipediaeinträge, die den Eindruck vermitteln, Bund Freiheit der Wissenschaft und NoFU seien Selbsthilfegruppen für Betroffene von 68er Gewalt gewesen, ist eher abzuraten.

[5] Wer nachsehen will, kann das dort tuen: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ . Letzter Zugriff am 09.12.2024.

[6] Vor fast zehn Jahren machte der damalige DFG-Präsident Peter Strohschneider einen Auftakt mit einem Sammelband Text, den er die Politik der transformativen Wissenschaft nannte. Nach Erscheinen von Strohschneiders Text gab es eine Reihe von Erwiderungen, Streitgegenstand war seinerzeit die Frage, ob in einer Vorstellung einer transformativen Wissenschaft eine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit zu sehen sei. Aus heutiger Sicht fügt sich Strohschneiders Text ganz gut in die hier diskutierte Zeitreihe ein. Die Diskussion wurde überwiegend in der Zeitschrift Gaia (https://www.oekom.de/zeitschrift/gaia-2) ausgetragen. Bereits damals war es ein Problem der Diskussion, dass sich Strohschneiders Intervention nicht als politisch ausflaggte, sondern im Gewand einer wissenschaftlichen Fachdiskussion daherkam. Ein Link zu Strohschneiders Sammelbandbeitrag von 2014 steht hier:

https://uol.de/fileadmin/user_upload/proj/reflresp/Strohschneider_2014_Zur_Politik_der_Transformativen_Wissenschaft.pdf .

Zehn Jahre später (2024) hat Strohschneider einen Essay der in eine ähnliche Richtung argumentiert vorgelegt, womöglich werde ich den lesen und hier (falls es sich lohnt) diskutieren: https://www.chbeck.de/strohschneider-wahrheiten-mehrheiten/product/36497748.

[7]Und zwar hier: https://www.wissenschaftskommunikation.de/die-forderung-nicht-politisch-zu-sein-ist-politisch-81909/ .

[8] Schnell nachlesen kann man das hier: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/wissenschaft-oeffentlichkeit-demokratie-2022/509591/objektivitaet-in-anfuehrungszeichen/ .

[9] Es sei hier noch die kleine Nebenbemerkung erlaubt, dass auch die oben kurz thematisierte NoFU bekannt war für das Anlegen von Schwarzen Listen studentischer Aktivist:innen.

[10] Vergleiche diesen im November 2023 erschienen Artikel aus dem Guardian. URL: https://www.theguardian.com/politics/2023/nov/18/shocking-scale-of-uk-governments-secret-files-on-critics-revealed , letzter Zugriff am 09.12.2024.

[11] Vergleiche hier jetzt nur (ungelesenerweise) im Rahmen eines kursorischen Verweises, Caroline Amlinger/Oliver Nachtwey (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus; Berlin: Suhrkampt. URL: https://www.suhrkamp.de/buch/gekraenkte-freiheit-t-9783518430712 .

[12] Vergl. dazu die Arbeiten der BBAW-Forschungsgruppe Wandel der Universitäten und ihres gesellschaftlichen Umfeldes, hier insbesonder Otto Hüther/Uwe Schimank (2023): Debatten zur Wissenschaftsfreiheit in Deutschland – aktuelle Themen und Positionen und deren historische Einordnung; Reihe Wissenschaftspolitik im Dialog No. 23/2023; Berlin: BBAW.