Der Gedanke, Postfaktisches sei etwas Neues in der Politik, ein Momentum, das erst jetzt, nach der Wahl Trumps oder mit dem Aufkommen der AfD Einzug hält, irrt. Neu ist lediglich, dass eine ganze Menge postfaktisches Denkens und Meinens im Zentrum der Macht, im Weißen Haus angekommen ist. In diversen Politikfeldern hatten wir Postfaktizität seit eh je, immer dann, wenn politisch motiviertes Nichtwissenwollen überhandgenommen hat; so gehörte es seit langem in der bundesdeutschen Verkehrspolitik zum guten Ton so zu tun, als sei globale Erwärmung etwas eher Nebensächliches. Politikfelderübergreifend lässt sich sagen, dass das Wissen jeweils anderer Politikfelder unerwünscht ist: Verkehrspolitik ignoriert umweltpolitische Folgen, Wirtschaftspolitik sozialpolitische, reine Machtpolitik ignoriert falls nötig die Belange aller anderen Felder. Darüber hinaus pflegen Politikfelder ihre Beziehungen zu ihren Lieblingsfächern und –disziplinen und nehmen Resultate ihnen fremder Disziplinen nur ungern und zögernd zur Kenntnis. Und auch innerhalb der disziplinären organisierten Wissensbereiche ist Selektivität verbreitet, Wirtschafts- und Finanzpolitik hat es immer wieder vermocht, ganze wirtschaftswissenschaftliche Wissenssphären aus ihren Beratungs- und Kommunikationskontexten zu verbannen und sich ausschließlich auf eine volkswirtschaftliche Denkschule zu beziehen. VertreterInnen heterodoxer wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsansätze finden sich in den von den Bundesministerien für Finanzen und Wirtschaft eingesetzten Beratungsgremien nicht.
Wissenschaft und Politik, so zeigt es sich anhand solcher Beispiele, stehen in einem prekären keineswegs selbstverständlichen Verhältnis zueinander. Eine echte der Realität zugeneigte Verwissenschaftlichung von Politik muss man wollen und aktiv betreiben. Es war ein Irrtum, davon auszugehen, dass Verwissenschaftlichung der Politik ein Prozess ist, der einfach quasi naturwüchsig immer so weitergeht und im Ergebnis Rationalität des Politischen steigern, politikfeldspezifischen Lernen ermöglichen wird, einfach so. Anders ist es auch kaum zu erklären, warum so viele Versuche, Wissenschaft und Politik zur Deckung zu bringen gescheitert sind. Frühe Beispiele solcher Unterfangen sind Platons Ideen von Philosophenkönigen, die nie wirklich umgesetzt wurden (was in antiken Gesellschaften, deren Angehörige zu mehr als 90 % AnalphabetInnen waren, auch kaum anders zu erwarten war). Viel später gab es den wissenschaftlichen Marxismus, oder die Technokratiebewegung (deren gedankliche Wurzeln bis zu utopischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts zurückreichen), zwei Denkbewegungen, die die Grenze von Wissenschaft und Politik schleifen wollten und auch der Neoliberalismus hat dies letztendlich versucht, indem er die Unterscheidung von politischem Räsonieren und quantitativer Rationalität aufzuheben trachtete. Das alles ging mehr oder weniger schief, eher mehr. Wissenschaftlicher Marxismus geriet in seiner Ausprägung als marxistisch leninistischer realexistierender Sozialismus angesichts seiner spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Mischung aus Gewalt, Erpressung und Heuchelei in ideologische Erstarrung, Technokratie versuchte politisches durch technisches Entscheiden zu ersetzen und scheiterte an nicht hinreichend klärbaren Entscheidungsprämissen, der mangelnden Technisierbarkeit des Sozialen und den ihr innewohnenden demokratietheoretischen Problemen. Neoliberalismus schließlich hölte den politischen Entscheidungsraum derart aus, dass sich seine VertreterInnen nur noch individuell wirtschaftliche vorteilsnehmerisch zu vermitteln vermochten und so keine Angebote für all diejenigen hatten, die von ihrer Politik nicht profitierten, geschweige denn für all die, die von Politik etwas anderes erwarteten, als zu ihrer Einkommenssteigerung beizutragen.
Politik und Wissenschaft sind, bei näherem Hinsehen, trotz einer oberflächlichen Ähnlichkeit recht weit auseinander und streben auch nicht langfristig ineinander. Ihre oberflächliche Ähnlichkeit tritt zutage, wenn man darauf abstellt, dass es in beiden Feldern um Geltungsansprüche geht. In der Wissenschaft, und das wird unter postmodernen Bedingungen zu oft vergessen, um wahrheitsfragenbezogene in der Politik um allgemeinverbindliche. Lässt man die Adjektive jeweils weg, sieht das irgendwie gleich aus. Auf diesem Gleichaussehen basieren die Vorstellungen, beides miteinander in Einklang bringen zu können. Allerdings sind Wahrheitsfragenbezug und Allgemeinverbindlichkeit nicht das gleiche, nicht früher, nicht heute und auch nicht in einer vorstellbaren Zukunft. Auch eine von Sozialtechnologien und Technologien durchdrungene Politik wird nicht ohne Bezug auf wissenschaftlich, technisch Unbegründbares auskommen. So wie wissenschaftlich nicht ohne Disziplinen, ihre Grenzen und ihr Zusammenspiel gedacht werden kann, ist politisches Denken ohne Ideologien schwerlich vorstellbar.
Die in wissenschaftlichen Diskursen zentrale Wahrheitsfragenbezogenheit von Geltungsansprüche meint, dass sie entweder auf Verweisungszusammenhänge der Relevanzfilterung, Methoden oder beides bezogen sind, sie muss entweder unter einem im Rahmen von rationalem Übereinkommen zustandegekommenen Ausblenden und Starkmachen von Realitätsaspekten (wir nennen das wissenschaftliche Disziplinen) oder methodenbezogen, also nachvollzierbar und im Grunde genommen reproduzierbar zustandekommen. Fragen von Macht, Herrschaft und Allgemeinverbindlichkeit bleiben dabei idealerweise außen vor. Politischen Geltungsansprüchen geht es aber genau darum, sie sollen Aussage dazu erlauben, wer wie wann Macht ausüben darf und was getan werden muss oder soll. Als politisch ideologisch entstandene Tatbestände sind sie stets aufhebbar, wenn sich Wandel politischer Denkmuster einstellt. In der Trennung von Macht und Wahrheit konstituiert sich eine der zentralen Errungenschaften modernen Denkens.
Wenn es aber in einem politischen System nun so bestellt ist, dass politische Äußerungen auch an ihrem Wahrheitsbezug gemessen und zugerechnet werden, ist das aus meiner Sicht etwas Gutes, denn es drängt pure Machtausübung zurück und setzt der politischen Willkür Grenzen. Wenn nun politische Entscheidungsträger*innen genau darauf verzichten können, ohne, dass das negative Konsequenzen für sie hat, haben wir in der Moderne ein Problem, denn eine so begründete Politik wird irgendwo Schaden anrichten. Und genau das, ist in den USA mit dem Wahlsieg Trumps passiert. Er hat mehrfach Unwahrheiten gesagt und verbreitet und ist damit erfolgreich gewesen. Dies ist eine Praxis, die mit demokratischen politischen Systemen nicht gut verträglich, gleichwohl in autoritären Politikarenen gebräuchlich ist. Von der Putin-Regierung in Russland sind wir es gewohnt, dass sie in Konfliktsituationen, bei strittigen Ereignissen (wie dem Flugzeugabschuss über dem Donbass) einfach eine Vielzahl von unbewiesenen, mehr oder weniger abwegigen Behauptungen in die Welt setzen, nur um die Debatten zu verwirren und ihnen Stoff zu geben. Der Wahrheitsgehalt der im Rahmen dieser Kommunikationsstrategie verbreiteten Geschichten ist sekundär, es handelt sich somit weniger um Lügen, denn es geht gar nicht darum eine bestimmte Version durchzusetzen, sondern lediglich darum, Zurkenntnisnahme und Geltung unerwünschter Wahrheiten zu unterbinden.
Das heißt angesichts der Entwicklung rund um das Weiße Haus wird man sich angewöhnen müssen, auf die Trump Präsidentschaft mit den gleichen Perspektiven zu gucken, wie auf die Kreml Politik Putins. Kann sein, dass es sich lohnen wird, noch einmal in Texte von Autoren wie Peter Pomerantsev oder Masha Gessen zu gucken, denn die haben schon vor Jahren beschrieben, wie die Wahrheitsbearbeitungsmethoden der Kreml Administration funktionieren. Der Erfinder solcher Kommunikationsstrategien ist so gesehen nicht Steve Bannon, sondern Vladislaw Surkow. Stimmen, die meinen, so singulär wäre die Wahl Trumps gar nicht, weil es schon früher Paradigmenwechsel us-amerikanischer Politik unter populistischen Vorzeichen gegeben habe, liegen vermutlich, was diesen Aspekt angeht, daneben. Auch ein Vergleich mit der zweiten Bush Administration nach 2000 trägt nicht weit, denn diese hatte sich zwar bemüht, eine alternative Weltsicht nach der der Irak ein militärisch gefährlicher Staat mit Massenvernichtungswaffen war, durchzusetzen, hatte aber anders als die Trumpkampagne, den Unterschied von Fakenews und echten Nachrichten Wahrheit und Lüge nicht als unerheblich gesehen. Leute wie Karl Rove und Richard Cheney hatten damals eine inhärent kohärente Parallelwirklichkeit durchsetzen wollen, das erforderte abgestimmtes Agieren und eine gewisse intellektuelle Disziplin, den Trump Leuten ist sowas völlig egal, sie erzählen einfach irgendwas und setzen ihre Referenzen zu verschwörungstheoretischen Quarkdiskursen. Deshalb ist es ihnen auch gleichgültig, bei Falschaussagen erwischt zu werden. Ihr Ziel ist schließlich nicht eine Parallelwirklichkeit durchzudrücken, vielmehr wollen sie die Auffassung verbreiten, dass es sowas wie Wirklichkeit und Wahrheit ohnehin nicht gibt, weil sowieso alle nur das erzählen, was ihren Zwecken dient.
Was angesichts dessen zu tun ist, beginnt sich erst schemenhaft abzuzeichnen. Wahrscheinlich hat Evelyn Roll Recht, wenn sie in der Süddeutschen Zeitung vom 19. November schreibt, dass JournalistInnen nun lernen müssten mit Postfaktizismus in der Politik umzugehen. Dass es nicht darum gehen kann, postfaktischer und faktenorientierter Politik mit Äquidistanz zu begegnen. Wenn Leute auftreten und sagen, die Erde sei eine Scheibe, dann sollte die darüber berichtende Schlagzeile idealerweise nicht lauten „Streit um die Form der Erde!“. Würde man künftig sogenannte Klimaskeptiker auf diese Art begegnen und ihren Verlautbarungen genau die intellektuelle Achtung gewähren, die sie verdienen, wäre der Wahrheitsorientierung des politischen Journalismus schon einmal geholfen. Das gleiche Prinzip muss vermutlich auf vieles, was eine Trump-Administration verlautbaren wird angewandt werden. Vielleicht hat auch Masha Gessen Recht, wenn sie sagt, dass sich Journalisten von Qualitätsmedien werden entscheiden müssen ob sie Zugang zum Weißen Haus oder Bezug zu journalistischer Redlichkeit aufgeben wollen, man wird sehen.
Wissenschaftspolitisch bedeutet, die Ankunft postfaktischen Denkens in der Politik, dass man darauf achten muss, die Kommunikationskanäle zwischen Wissenschaft und Politik aufrechtzuerhalten und auszugestalten. Dabei werden Demokratie und Transparenz von zentraler Bedeutung sein. Anders als in den USA gibt es hier keine politisch aufgespaltene Wissenschaftslandschaft, wenn man einmal von Vereinen wie EIKE und ähnlichem absieht. Es gilt angesichts solcher Einrichtungen festzuhalten, dass es sich bei ihnen nicht um VertreterInnen von Wissenschaft handelt. Wenn künftig AFD-WissenschaftspolitikerInnen auflaufen werden und meinen, solche Einrichtungen sollten mit öffentlichen Forschungsgeldern bedacht werden, weiß man, was ihnen zu antworten sein wird.