Am Mittwoch der vorletzten Woche hat Markus Steinmayr – ein Literaturwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen – für die FAZ Texte gelesen, die sonst niemand liest: Lehrstrategien, Forschungsstrategien mindestens eine Digitalisierungsstrategie das meiste davon von der Universität Duisburg-Essen. Er schließt dabei gedanklich an einen Text Stefan Kühls an, der im Januar in der FAZ zu lesen war. Diese Strategien sind allesamt Texte, deren Zweck zuvorderst nicht darin besteht gelesen zu werden oder gar Hochschulangehörigen handlungsleitend zur Seite zu stehen, sondern weitgehend ungelesen für Legitimation zu sorgen. Geschrieben wurden sie, um die Hochschule gut aussehen zu lassen, es gehört heute zur institutionellen Erwartung, dass es derartige Strategien gibt. Steinmayr hat als Literaturwissenschaftler, der er ist, diese Text ernst genommen und sie in Hinblick auf ihre Argumentationen und Kernaussagen angeschaut, er hat dabei Unangenehmes, das sonst zumeist unentdeckt bleibt, zutage gefördert.
Folgendes hat er gefunden: Die Lehrstrategie der Universität Duisburg-Essen ist als „Beginn eines auf Dauer angelegten Prozesses kontinuierlicher Verbesserung, der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in Studium und Lehre in einer gleichermaßen der Forschung wie der Lehre verpflichteten Universität“ zu verstehen, heißt es. Außerdem wird der „grundsätzliche Anspruch auf Integration der Forschung in die Lehre“, bei „hohem fachlichen Standard und Einbindung von aktuellen Forschungsfragen“ erhoben. Forschung und Lehre sind also keine Einheit mehr, wie weiland, sondern Forschung muss in die Lehre (organisational (?), pädagogisch (?), (wer weiß das schon?) integriert werden. Die Funktion der Universität jenseits organisationalen Bemühens, neues Wissen in Umlauf zu bringen, indem sie Forschung und Lehre verbindet, unablässig neues soziales Kapital schafft und dieses sogleicht wieder entwertet, ist mithin nicht (mehr?) Bestandteil der Lehrstrategie der Universität Duisburg-Essen. Man könnte jetzt meinen, einen Ersatz für diese weggefallene Funktion zu schaffen, sei nun Aufgabe einer universitären Lehrstrategie, oder vielleicht dann wenigstens einer Forschungsstrategie? Also hat Steinmayr dort nachgeschaut, dabei aber gefunden, dass diese Strategie auch keine Hinweise gibt. Sie unterscheide zunächst einmal nicht zwischen Forschung als Tätigkeit eines Individuums oder als Idee einer Institution, schreibt Steinmayr. In der Forschungsstrategie sei dann von „forschungsbasierter Lehre“ die Rede, was ja etwas anderes sei, als Lehre, in die wie bei der Lehre der Lehrstrategie aktuelle Forschungsfragen inkludiert worden sind.
Dann behaupte die Forschungsstrategie an Humboldts Ideal orientiert zu sein, das darin bestehe „grundlegende und innovative wissenschaftliche Erkenntnisse jenseits der aktuellen Forschungslinien durch Freiheit zu ermöglichen“. Das mögen interessante Zielreflektionen sein, mit dem von Humboldt Aufgeschriebenen haben sie allerdings nichts zu tun, aber, was wusste Humboldt auch schon von solch flüchtigen wie heutigen Geistesfüchten wie „disruptiven Innovationen“ (und Ideen), die Punkt 10. der Forschungsstrategie fördern will.
Im Anschluss an Steinmayrs Lektürebericht stellt sich die Frage, warum Universitäten, ihre Leitungen und Gremien so wenig Scheu vor so offenkundig Inkonsistentem leicht Unsinnigem haben, warum da Texte hingeschreiben und online gestellt werden, die einer intellektuellen Überprüfung nicht Stand halten. Blasentexte, Wolkiges ja schlichten Unfug, wie der Absatz zum disruptiven Gesellschaftsbeitrag, den die Ruhrgebietsuniversität zu leisten gedenkt. Die Annahme, dies habe mit der Funktion, die Texten zu tun, liegt da nicht allzu fern.
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass solche Texte nicht viel gelesen werden, allenfalls von ihren AutorInnen und wohl von ReferentInnen des Hochschulpräsidenten und in einer Stabsstelle für Forschung resp. Lehre, vielleicht im Wissenschaftsministerium vom für die Hochschule zuständigen Fachaufsichtsreferenten werden sie gelesen werden. Forschungs- und Lehrleitbild werden dabei vermutlich von unterschiedlichen Leuten verfasst und dann in unterschiedlichen Stabsstellen der Universitäten korrekturgelesen, allenfalls in den Wissenschaftsministerien landen die beiden Textsorten auf einunddemselben Schreibtisch. Aber welcher Referent im Ministerium würde seinem Referatsleiter nahelegen solch einen Text der betreffenden Hochschule zwecks Überarbeitung zurückzureichen. Das mit den verschiedenen Bearbeitungskreisen würde zumindest erklären, warum in Duisburg Forschungs- und Lehrstrategie nebeneinandergelegt und zusammen gelesen so wenig Sinn ergeben.
Aspekte wie dieser fehlende Sinn fallen allerdings, weil es sich ja im Wesentlichen um nichtgelesene Texte handelt, im hochschulpolitischen Alltag kaum auf. Sinndefizite solcher Texte fallen auch gen der praktischen Irrelevanz solcher Texte nicht auf. Lehrende würden solche Strategietexte nicht konsultieren, wenn sie auf der Suche nach Antworten auf die Frage sind, wie sie ihre Lehre gestalten oder Forschung und Lehre miteinander verbinden könnten. D. h. die soziale Wirksamkeit solcher Texte, die Funktion, die sie für das Ansehen ihrer Organisation haben wird auch in erheblichem Umfang durch ihre Ungelesenheit konstituiert.
Liest man sie, verlieren solche Texte schlagartig jegliche Aura, denn nur dann, wenn man die mageren Sinngehalte und Spruchblasen dieser Texte nicht zur Kenntnis nimmt (oder auf durch professionspolitischen Druck dazu gehalten ist sie zu ignorieren), kann man an der Auffassung festhalten, sie seien wichtige Bestandteile einer organisationalen Selbstbeschreibung einer Universität.
Damit unterscheiden sie sich von Texten wie AGB, die ebenfalls nicht gelesen werden, aber im Zweifelsfall wenigstens eine juristische Relevanz entfalten. Und auch von vorsätzlich nichtgelesenen sinntragenden Texte, die man, um sie aus einem Diskurs zu verbannen nicht liest, unterscheiden sie sich. Anders als diese werden diese Texte eben aus dem Grund, sie in einem Diskurs zu halten, nicht gelesen. Es steht von daher zu vermuten, dass sich im Laufe der letzten Jahre eine organisationale Praxis des Nichtlesens (frei nach Johannes Franzen; sowie dem #nichtlesen auf Twitter) herausgebildet hat.
Im Bolognastudium angeeignete Nichtlesekompetenzen werden hierbei sozial wirksam. Insofern fiele die Lektüre solcher Dokumente auch erlernten instrumentellen Kosten Nutzen Abwägungen zum Opfer, die ein gelingendes Studium dadurch gewährleistet sehen, dass erworbene Leistungspunkte nicht durch den Einsatz von allzu viel Zeit, Lesezeit, Lebenszeit errungen worden sind. Johannes Franzen hat in seinem in der Zeit veröffentlichen Essay gezeigt, dass solche Überlegungen nicht nur für Studierende, sondern auch für promovierte GermanistInnen, die bestrebt sind, mitreden zu wollen und zu können, maßgeblich sind. So findet letztendlich die Bologna-Universität zu sich selbst, die Kreise schließen sich zu kompetent konstruierten Zirkelschlüssen die noch kompetenter geclustert werden. Auch wenn anders, als von Franzen beklagt, niemand solche XYZ-strategien lesen muss, um mitreden zu können, denn einen Diskurs über diese Text gibt es ja jenseits von Hochschulmanagementzirkeln nun auch nicht. Insofern fällt das Leiden am Zugemuteten weniger umfänglich aus als bei denen, die sich nicht anders dem Zwang der Verhältnisse zu stellen vermögen, als den jeweils aktuellen Houellebeq- sich ihren moralischen Skrupeln zum Trotz gequält zuzuführen. Etwas schade an der Entwicklung ist, dass die wesentlichste Kompetenz von allen, die an einer Universität angeeignet werden kann, nämlich die Kompetenz, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, unter die Räder gerät.