Lothar Zechlin, meiner Ansicht nach einer der interessantesten Vertreter aus dem Kreis der ehemaligen Universitätspräsidenten, hat im Tagesspiegel einen Artikel zur Frage der ProfessorInnenmehrheit in Hochschulgremien geschrieben. Er wundert sich darüber, dass das Baden-Württembergische Landesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14. November die ProfessorInnenmehrheit auch auf die Gremien ausweitet sehen will, die nichts anderes zu tun haben, als Hochschulleitungen zu wählen oder über Grundordnungen zu beschließen. Beides, sagt er, seien Dinge, die Forschung und Lehre allenfalls mittelbar betreffen. Wissenschaftsfreiheit – meint Zechlin – werde von diesem Gericht und anderen deutschen Gerichten, wie es scheint, fast ausschließlich als eine Freiheit von ProfessorInnen konzeptualisiert.
Dies sei ein deutscher Sonderweg, der noch nicht einmal bei unseren unmittelbaren deutschsprachigen und der Rechtskultur nach eng verwandten Nachbarn in Österreich und der Schweiz mitgegangen werde. So sei in Österreich die Wissenschaftsfreiheit als ein Abwehrrecht konzipiert, das jeder Wissenschaft treibenden Person zur Verfügung stehe, nicht nur den ProfessorInnen. Zechlin plädiert vor dem Hintergrund der Rechtsungleichheit zwischen Deutschland und seinen Nachbarn (in deren Bestehen er auch ein europarechtliches Problem sieht, weil Rechtsangleichheit aus europäischer Perspektive ein Wert an sich sei) für eine Zurückhaltung der deutschen Justiz in Hinblick auf die Notwendigkeit von universellen ProfessorInnenmehrheiten und möchte die Ausgestaltung der Wissenschaftsfreiheit in höherem Grad der politischen und wissenschaftlichen Praxis überlassen wissen. Dann könnten, schlägt Zechlin vor, unterschiedliche Modelle ausprobiert werden. Zechlin schließt mit der Frage, ob es nicht viel wissenschaftsfreundlicher wäre, der Politik Lernprozesse im Umgang mit verschiedenen institutionellen Ausgestaltungsformen von Wissenschaftsfreiheit aufzutragen.
Das sind – wie ich finde – keine schlechten Ideen. Denn schließlich ist die deutsche professoral dominierte Verfassungsrechtsprechung derzeit mit der Abwehr allzu stark gewordener Rektorate beschäftigt. Aus der eigentlich richtigen Idee heraus, dass in einigen Hochschulgesetzen, besonders solchen, die der unternehmerischen Hochschule huldigten, das Verhältnis von Hochschulleitung und Wissenschaft betreibenden Individuen in Unwucht geraten ist, folgern sie, dass ProfessorInnen zu stärken sind. Blättert man in dem baden-württembergischen Urteil und seinen dazu veröffentlichten Leitsätzen fällt auf, dass den RichterInnen gar nicht in den Sinn kam, dass Wissenschaftsfreiheit sich auch auf nichtprofessorale Menschen beziehen könnte. Es kommt dem Gericht weitestgehend auf das Verhältnis von Hochschulleitung, resp. Hochschulrat und ProfessorInnen an, andere Statusgruppen werden überhaupt nicht erwähnt, andere Themen ausgeklammert. Aus Gründen, die Wissenschaftsfreiheit der einen Gruppe zu stärken, wird also die Wissenschaftsfreiheit der nichtprofessoralen 80 % unter den WissenschaftlerInnen beschädigt und geschwächt, bestenfalls als unwichtig erachtet.
Damit wird zunächst einmal fortgeschrieben, was dem deutschen Wissenschaftssystem schon seit jeher zu eigen war, seine im internationalen Vergleich auf einer Mikroebene undemokratische Binnenstruktur. Mit solchen Urteilen wird der Diskurs über eine demokratische Entwicklung wissenschaftlicher Einrichtungen eingeengt und der deutsche Sonderweg immer weiter fortgeschrieben, die seltsame Kombination aus scharfer Trennung professoraler und nichtprofessoraler WissenschaftlerInnen und Herausgehobenheit der Professor sowie eines im internationalen Vergleich geringen Anteils der ProfessorInnen an der Gesamtheit der WissenschaftlerInnen. Daraus resultiert insofern ein Demokratiedefizit, als nur 20 % der WissenschaftlerInnen darüber entscheiden, wie und in welche Richtung sich Wissenschaft entwickeln soll. Alle, denen Demokratisierung von Hochschulen ein Anliegen ist, sind genötigt, sich mit Forme(l)n der Dominanz von ProfessorInnen auseinanderzusetzen, Ressourcen werden damit von der Frage abgelenkt, wie Meinungsbildung und Strategieentwicklung in Wissenschaftsorganisationen demokratischere Formen annehmen kann. Insofern hat sich die Prognose des Minderheitenvotums zum berüchtigten Verfassungsgerichtsurteil von 1973 bestätigt (zum Nachlesen kann mir hier nachgucken). Der Diskurs über die Demokratisierung von Hochschulen ist weitgehend gelähmt und stillgestellt. Auch wenn es immer wieder spannende Ideen gab, blieben diese doch weitestgehend folgenlos. Viel schlimmer noch, es gibt wenige Antworten auf Fragen, wie Hochschuldemokratie angesichts der Veränderungen, die die Hochschulen in den letzten 30 Jahren erfahren haben, aussehen könnte, welche neuen Anforderungen an Hochschuldemokratie im Zusammenhang einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft sich stellen.
Dass Wissenschaft kein demokratisches, sondern eine meritokratisches Unterfangen ist, sei hier nicht bestritten, allein schon, weil es in der Wissenschaft eben nicht um Mehrheiten geht und auch weil in der Wissenschaft, anders als dies in der Politik möglich wäre, mit besseren Gründen von guter oder schlechter Wissenschaft die Rede sein kann. Das heißt jedoch nicht, dass die Organisationen der Wissenschaft nicht demokratische Elemente aufweisen könnten und sollten. Da wo es geht, sollten sie demokratisch organisiert sein. Es heißt auch nicht, dass Wissenschaft demokratischen Diskursen nicht verpflichtet wäre und eine illiberale Sozial- oder Geisteswissenschaft nicht abzulehnen wäre. Und es heißt schließlich auch nicht, dass hochschul- und wissenschaftspolitische Prioritätensetzungen jenseits demokratischer Kontrolle und Diskussion zustande kommen sollten. Es braucht also Formen, in denen Scientific Communities, Wissenschaftsorganisationen (wie DFG, MPG; DGS etc.), Organisation der Wissenschaft (Hochschulen, außeruniversitäte Forschungsinstitute) und Zivilgesellschaft miteinander zusammenkommen. Denn gut organisierte Teile der Zivilgesellschaft insbesondere Wirtschafts- und Industrielobbys haben es ja schon immer verstanden, ihre Interessen in wissenschaftspolitischen Diskursen unterzubringen oder verfügen gar über eigene Hybridorganisationen (Stifterverband, acatech etc.). Wo aber sind die Interessen, der weniger gut organisierten und finanziell abgepolsterten Teile der Zivilgesellschaft? Das im vergangenen Jahr ausgelaufene Projekt zur zivilgesellschaftlichen Plattform Forschungswende (mein Blogtext dazu auch hier) vermittelt Anhaltspunkte, wie es darum bestellt ist. Es braucht aus Sicht der Hochschulen gesehen einen inneren und äußeren Kompetenzaufbau. Die Hochschulen müssen ihre zivilgesellschaftlichen Außenkontakte organisieren, deshalb redet man in Hochschulen über Third Missions und zivilgesellschaftliche Akteure müssen lernen qualifiziert wissenschaftspolitisch Positionen zu beziehen, dazu wird es meiner Ansicht nach nötig sein, öffentliches Geld in die Hand zu nehmen.
Eine Chance, den Hochschuldemokratisierungsdiskurs aus seiner von Juristen verzapften Lähmung zu holen, könnte darin bestehen, ihn zu öffnen, einfach erst einmal über etwas anderes als über das Verhältnis von HochschullehrerInnen, -räten und –leitungen zu reden; D. h. die Debatte über eine innere Demokratisierung von Hochschulen mit der Debatte über Rolle und Ort von Wissenschaft in der demokratischen Gesellschaft zu verbinden. Ich kann es kaum abwarten, endlich damit anzufangen.