Am Samstag vor einer Woche beschloss die BDK der Grünen einen in langwierigen Kompromissverhandlungen abgestimmten Antrag zur Frage, wie in der Partei mit dem Homöopathiestreit umgegangen werden soll. Der Beschlusstext ist nicht aus einem Guss, kein stringent logisch durchargumentierter Text und vereint miteinander kaum vereinbare Positionen. Er benennt Konturen einer Roadmap, wie mit welchem Ziel, auf welcher Zeitschiene verfahren werden soll. Es soll eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden, in der Gegner*innen und Befürworter*innen der homöopathischen Lehre miteinander besprechen sollen, was man der Partei vorzuschlagen gedenkt, dabei soll auch der Wissenschaftsbegriff in der Medizin zur Sprache kommen. Einige Journalisten, insbesondere Lars Fischer vom Spektrum Wissenschaft und Georg Schulte von der taz sahen das aber anders und meinten laut und deutlich auf Twitter, die BDK habe beschlossen, den Wissenschaftsbegriff neu zu definieren. Sie waren sich damit lauten Beifalls und lauter Empörungsbekundungen sicher.
Ein sonntäglicher Reply von mir erwiderte und stellte richtig, was tatsächlich beschlossen worden ist. Die Reaktionen waren interessant. Diverse Accounts erwiderten nun wiederum mir, Medizin sei Wissenschaft und nur Wissenschaft, habe nichts anderes zu berücksichtigen, als Wissenschaft. Ein bayerischer SPD-Landtagsabgeordneter schrieb mir, was ich geschrieben hätte, sei Homöopathenlogik, Medizin sei Wissenschaft, und was nicht wissenschaftlich sei, sei auch keine Medizin. Meiner Erwiderung, dass Medizin Medizin sei, also ein Handlungsfeld, in dem sich wissenschaftliche und ökonomische Handlungslogiken miteinander mischten, entgegnete der Parlamentarier, dass auch nichtwissenschaftliche Handlungslogiken einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht entzogen seien. Meine Antwort, dass das nirgendwo von mir behauptet worden sei, rief eine Ernährungsbloggerin auf den Plan, die anmerkte, dass, wenn den Medizin ein Handlungsfeld sei, dieses und nicht der Wissenschaftsbegriff zu diskutieren sei ….
Man sieht, es war ein unterhaltsamer Sonntagmittag, der noch bereichert wurde durch etliche hypermodernistisch gesinnte IT-Fachkräfte und andere, die über meine Äußerungen überaus empört waren, mir Verächtlichmachen der Medizin vorwarfen und einiges mehr.
So langweilig und erwartbar vieles davon war. Es zeigt sich hier eine Reihe von Mustern, die es wert ist, genauer angeschaut zu werden. Zum einen gibt es ein beträchtliches vulgärmodernistisches antigrünes Ressentiment, das primär links der politischen Mitte angesiedelt ist, seine sozialen Wurzel wie es scheint in einem IT-lastigen, überwiegend männlich geprägten Milieu mittlerer formaler Bildung hat. Das Ressentiment richtet sich – wie soll ich es genauer wissen – gegen die Grünen, gegen die Thematisierung ökologischer Begrenzungen, natürlich auch gegen Homöopathie. Seine Vertreter imaginieren sich als der Wissenschaft nahestehend, ohne selbst über tatsächlich wissenschaftliches oder gar wissenschaftstheoretisches Ausdrucksvermögen zu verfügen. Jeder aber auch wirklich jeder Satz, den man in der Sache zurechtrückend schreiben kann, zu den oben genannten journalistischen Anwürfen, ist aus deren Perspektive selbstverständlich esoterische Homöopathenlogik. Etwas irritierender noch als die Attacken der IT-Fachleute fand ich die Art wie Naturwissenschaftler in ihren Antworten offenlegten, welcher Art ihr Wissenschaftsbegriff ist. Das Maß naiven Postivismus’, das dabei zutage trat, habe ich als unangenehm überraschend erlebt.
Ungleich interessanter als die einzelnen Einlassungen war für mich aber der Seitenwechsel, auf Twitter plötzlich als Homöopathieanänger hingestellt zu werden. Für die innergrüne Debatte in Bezug auf Homöopathie ergeben sich aus dem Erlebnis ein paar Lehren. Zum einen ist es wichtig, die Debatte rational zu führen. Rational in diesem Zusammenhang heißt für mich differenziert. Die Argumente müssen, so es welche gibt, als Argumente bewertet und diskutiert werden, gut wäre es, wenn Einigkeit darüber bestünde, was Evidenz ist. Wie auch in jeder zukunftsfähigen politischen Debatte muss es möglich sein, Einigkeit darüber herzustellen, wo wir es mit Wissenschaft und wo mit Politik zu tun haben, wo Meinen beginnt und wo Wissen endet. Ohne eine gemeinsame Plattform, ohne eine Einigkeit über die Grenzverläufe von Meinen und Wissen wird es schwer werden, eine nach außen vermittelbare Position zu formulieren.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung war bei der Grünen Homöopathiedebatte nicht wirklich alles gut. Der Antrag, der zunächst für die Bielefelder BDK eingereicht werden sollte, hat möglicherweise einige in der Partei überfordert, zumindest hat die ihn begleitende Kommunikation keine Brücken gebaut. Was aber wiederum, wenn man die Vorgeschichte der Debatte aus dem Frühjahr und Sommer kennt, auch nicht allzu verwunderlich war. Da gab es Attacken gegen die taz wg. eines homöopathiekritischen Artikels, Drohungen mit einer Kampagne, deren Ziel es sein sollte, Leute aus dem Grünen Spektrum dazu zu bringen, ihre Abonnements zu kündigen. Es gab da auch Anzeigen von Produzenten von Homöopathopharmaka gegen eine Kritikerin der Homöopathie. Kurz nachdem der Antrag von Demisch und anderen online war, setzen Attacken eines Homöopathiewatchblogs ein, die besagten, der Antrag sei neoliberal, Demisch in Wirklichkeit eine Art U-Boot der FDP. Ich habe nicht gesehen, dass Freunde des Homöopathiewesens für eine innerparteiliche Diskussion derlei Unfug zurückgewiesen hätten. Stattdessen gab es moderater klingende Argumente der Art das Thema sei nicht wichtig, würde der Partei schaden und dann noch wieder aus einer etwas irrationaleren Ecke, man dürfe sich durch die Pharmalobby nicht spalten lassen.
Das alles habe ich als ein Tiefpunkt innergrünen Diskurses erlebt. Es zeigt für mich, dass wir da ein Problem haben. Auf den ersten Blick sieht die Debatte, offenbar ja auch für viele JournalistInnen, von außen wie eine Generationendebatte aus. Auf Seiten des Homöopathiewesens gibt es viele DiskutantInnen, deren Geburtsjahre vor 1960 liegen. Es gibt da ganz offensichtlich einen Zusammenhang von Parteientstehung und der Neigung, Homöopathie verteidigen zu wollen. Aus diesem Zusammenhang entsteht eine geradezu organisationsidentitäre Verknüpfung, die Vorstellung, gegen Homöopathie einzutreten sei nicht grün. Auf der Gegenseite häufen sich Leute mit Geburtsdaten nach 1990, denen diese von den Älteren aufgemachte Verknüpfung nicht mehr evident ist.
Diese Differenz zeigt, dass es eine Debatte ist, in der es auch darum geht, wie man es mit der Wissenschaft hält (die FAZ hat das für Zeitungsverhältnisse erstaunlich differenziert beschrieben). Deshalb ist das Argument, man könne nicht einerseits zusammen mit den Futurebewegungen ein Versammeln hinter der Wissenschaft verlangen, andererseits aber selektiv dabei sein, welcher Wissenschaft man zuhören wolle und welcher nicht. In der innerparteilichen Debatte habe ich bislang keine Gegenargumente gehört, die das entkräften würden, allenfalls eine identitäre Erwiderung in etwa der Art „warum schielt ihr auf die Zustimmung oder Glaubwürdigkeit bei Leuten außerhalb der Partei und verratet den innerparteilichen Frieden“ oder „warum legt ihr mehr Wert auf Zustimmung von außen als auf Frieden im inneren der Partei“.
Beide Argumentationsstränge, wie auch die immer wieder wiederholte Aussage, das Thema sei nicht wichtig genug, um dafür Auseinandersetzungen in Kauf zu nehmen, verkennen, m. E. dass es bei der Frage der Glaubwürdigkeit in Bezug auf den Umgang mit Wissenschaft ums Ganze geht. Wenn es, wie ich nicht müder werde zu betonen, zur Gründungslogik der Grünen Partei gehört, Wissen nicht zu suspendieren oder selektiv anzueignen, dann hat diese Logik auch bei Wissen zu gelten, das nicht gefällt.
Aber auf der homöopathiekritischen Seite haben wir vielleicht auch etwas mitzunehmen. Die Gegenseite als esoterische Zuckerkugelkonsumenten hinzustellen, hilft vielleicht auch nicht wirklich. Zumal das Argument auf eine parteiidentitäre Tiefenstruktur prallt. Nach Alternativen zu etabliertem Denken und Wissen zu suchen ist etwas in der Wurzel Grünen Denkens. Da gab es die Kritik am etablierten Wissen, dass in der Kernspaltung Zukunft liege und auch die Kritik, dass Medizin Kranken helfe. Homöopathie hat sich dabei mehr oder weniger geschickt mit Naturheilung, Traditioneller Chinesischer Medizin und anderen verschränkt und sich in Verbindung damit in die Wahrnehmungen eingeschrieben. Das reicht dann manchen für die anekdotische Evidenz, es habe geholfen. Wer das, doppelt diskursiv abgesichert meint, ist offenbar für sachliche Argumentationen, es könne nicht wirken, die verbundenen Geltungsansprüche seien fragwürdig, oder es seien nur Placebo- respektive Interaktionseffekte, nicht erreichbar.
Die Aufgabe der Kommission zum Gesundheitssystem wird es sein, genau hier gemeinsamen Grund zu schaffen. Einen Ort zu finden, an dem sich wissenschaftlich Gewusstes und politisch Gemeintes treffen und dann auch trennen lassen. Denn es ist bei komplexen Entscheidungszusammenhängen kein Problem, unterschiedlicher Meinung zu sein, es ist aber ein Problem, wenn es in einer Partei keinen gemeinsamen Grund gibt, wann und wo unterschiedliches Meinen Akzeptanz verdient. Die jeweils andere Seite verschwinden zu lassen, scheint mir bis auf weiteres kein sinnvolles Ziel zu sein.
Es gibt also eine Menge Hausaufgaben zu erledigen, was zu tun ist zeigen die am Freitag in der Heute-Show enthaltenen Statements von Birgit Raab und Claudia Roth. Raab sagte, der Denkfehler sei, zu glauben, Medizin sei Wissenschaft und hat recht damit. Allerdings ist ihre Schlussfolgerung, deshalb gehe eben auch Homöopathie, unzutreffend. Ihr Statement beutet lediglich die Ambivalenz und Hybridität des Begriffs Medizin aus, der eben nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin resp. Perspektive bezeichnet, sondern ein Handlungsfeld, das weit älter ist als moderne Wissenschaft. Die mittelalterliche Universität hatte Medizin als eine der drei Oberen Fakultäten gemeinsam mit Theologie und Jurisprudenz eingeordnet. Oben waren diese Fakultäten, weil das, was man da lernte, dem in den sog. Unteren Fakultäten erlernten aus Trivium (Grammatik, Dialektik/Logik, Rhetorik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie/logie) aufsaß. D. h. in den Unteren Fakultäten lernte man, wie man denkt, schreibt, rechnet und hinhört, in den den Oberen ging es dann um Verwaltung der Seelen (Theologie), des Staates (Jurisprudenz) und der Körper (Medizin), also das Praktische, Angewandte, die Macht Stützende. Allerdings war die praktische Rolle universitärer Medizin zunächst begrenzt und selbst Spitäler waren vornehmlich nicht Bestandteil der Universitäten, sondern kirchlich (zunächst bei Klöstern und Stiften angesiedelt), später auch militärisch organisiert. Währenddessen konkurrierten universitär ausgebildete Mediziner mit Feldschern, Badern und Knochensägern und anderen praktischen Operateuren.
Aus dieser Geschichte wird schnell klar: Die Problemstellung und Zukunftsaufgabe ist nicht so sehr Vielfalt der Professionen, wie eine innergrüne gesundheitspolitische Debatte mitunter nahelegt, sondern der Wissenschaftlichkeit im Gesundheitssystem Geltung zu verschaffen. Andere Handlungslogiken insbesondere auch ökonomische gilt es zu kontrollieren. Wenn man sie nicht kontrolliert, stellen sich Entwicklungen wie in den USA ein, deren Gesundheitssystem in der Spitze hervorragend, dennoch ein sehr ineffizientes selektiv wirksames ist, dass obwohl es zu vielen verschlossen ist, einen höheren Anteil des BIP verschlingt als das Hiesige. Oder es fehlen pharmazeutische Wirkstoffe, weil die Industrie ihre Produktionsverlagerungen nach Indien so weit vorangetrieben hat, dass eine zuverlässige Bereitstellung nicht mehr gewährleistet ist.
Und auch Claudia Roth liegt falsch, wenn sie sagt, es gebe halt da die und die Wissenschaft, man wisse doch gar nicht, welcher man glauben sollte. Nun es gibt sie nicht. Wenn im Rahmen homöopathischer Lehren vorgetragene Geltungsansprüche zuträfen, würde das bedeuten, dass moderne Wissenschaft mit ihren Quantifizierungs- und Evidenzansprüchen seit Jahrhunderten auf dem falschen Dampfer ist. Wenig spricht dafür, dass das so ist, es gibt zwar viel zu kritisieren und etliche Fehlentwicklungen gerade auch in der Medizin, aber eine Aufhebung erkenntnisbasierten logischen Denkens ist keine überzeugende Antwort darauf.