Irgendwann zwischen 1989 und heute ist dem politischen Diskurs rechts der Mitte die Zukunft abhandengekommen. Vor 1989 lagen die Dinge einfacher, man hatte es mit einem Großgegner, einem Wettkampf zweier Systeme zu tun, der es erlaubte, eine zukünftige Welt nach der Überwindung einer Globalalternative zu denken. Danach, so heißt es jedenfalls ex post allzu oft zur Zeit, hätte Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausgerufen, praktische PolitikerInnen hätten für fast zwei Jahrzehnte jedenfalls diese langen 1990er Jahre entlang gedacht, es gebe zu (neo-)liberaler Politik keine Alternativen. Eine weltumspannende Großlage, die es erlaubt hätte ein Davor und ein Danach zu denken, gab es nicht mehr. Diese Zeiten seien nun aber endgültig vorbei vielleicht schon seit der Finanzkrise 2008, spätestens aber jetzt, verkünden nun wiederum viele mit mehr oder weniger Bedauern. Noch vorbeier sind diese Zeiten von Maß, Mitte und (Neo-)Liberalismus heute angesichts der Corona-Krise. Vieles, was früher galt, scheint nicht mehr zu gelten.
In Deutschland war das Zukunftsziel Überwindung der Blockkonfrontation um die ganze Welt zudem noch mit einer Wiederherstellung nationaler Einheit verbunden und auch deshalb für Konservative uneingeschränkt attraktiv. Anders als in den USA stand eine isolationistische Selbstbezogenheit noch nicht einmal als akzeptabler Gedanke zur Verfügung, allenfalls konnte man sich in einer vermeintlichen Kleinheit Deutschlands im Bündnis mit den USA und im Rest Europas verstecken. Als Aufbauideologie für die von solchen Vorstellungen geprägten Nachkriegsjahrzehnte, in denen mit nationaler Einheit noch nicht zu rechnen war und es in Deutschland vor der nationalen Geschichte grauste, war die Technokratie zur Hand. Technokratisches Denken erlaubte es, eine politikbefreite Zukunft zu imaginieren, in der vollendete Moderne als Abwesenheit von Ungewissheit und damit Politik und Ideologie möglich werden konnte. Die Zukunft dieser Jahrzehnte war eine Zeit, in der sich Ungewissheit und Kontingenz in technischem Handeln auflöste. In dieser Zukunft konnte man unbehelligt von politischer Unklarheit und Beeinflussung zu den Sternen, zumindest dann aber zum Mond streben. Für Konservative war das auch nach 1968 und der Mondlandung 1969 nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil es versprach, Zukunft ohne Frauen– oder Schwulenrechtelei und anderes mit 68 verbundenes Gedöns bekommen zu können.
Zukunftsträume der 1960er Jahre (Atom, Rakete, Magnetschwebebahnen etc.) blieben dann auch in den folgenden Jahrzehnten bis in die 1990er Jahre für die Zukunftsvorstellungen rechts der Mitte und in der Mitte des politischen Spektrums prägend. Mit dem Wegfall des Interessenschwerpunktes Weltraum, der nachdem er nicht mehr für eine Systemkonkurrenz kapitalisierbar war, plötzlich massiv an Reiz verlor, blieb die Nukleartechnik sowie ab 1980 die Digitalisierung als Telos technokratischen Bemühens übrig. Allerdings nur die Digitalisierung war von Erfolg gekrönt, nicht so die Nukleartechnik oder gar die Magnetschwebebahnen*. Als dezentralisierbare passte die Technologie der Digitalisierung auch weit besser zur spätmodernen Gesellschaft und konnte so anders als die Nukleartechnik zum Rückgrattechnologie des gesellschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden.
Indes war es aber links der Mitte zu weiterreichenden Transformationen gekommen. War dort bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch die fordistische Industriegesellschaft Bezugspunkt für Zukunftsvorstellungen, kam es nach 1968 zu einer postindustriellen Umorientierung. Nicht mehr die Industriemoderne, bei der es darum gegangen war, das Leben der Arbeiter und Angestellten mit besseren Häusern, PKWs und immer mehr technischen Geräten zu verbessern, prägte dort die Zukunftsvorstellung, sondern ihre ökologische dann an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Transformation. Bei diesem Wandel war Raumfahrt vorläufig uninteressant und Nukleartechnik im Weg. Die bemannte Raumfahrt zog sich widerstandslos aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zurück, die Nukleartechnik erwies sich als hartnäckiger nicht zuletzt, weil man rechts der Mitte begann, Zukunftsvorstellungen bei dieser Technologie anzuheften und sie identitär aufzuladen. So kam es dazu, dass etwa 20 Jahre nach dem Mauerfall die Nukleartechnik zur identitätsbestimmenden Zentraltechnologie explizit nichtlinker politischer Diskurse geworden war. Die erste Regierung Merkel war allen Ernstes der Auffassung, den von der Rot-Grünen Vorgängerregierung eingeleiteten Atomausstieg rückabwickeln zu müssen, um ein Thema zu haben, das für sie und ihre AnhängerInnenschaft identitätsstiftend sein konnte. Der Unfall in Fukushima setzte dem ein Ende.
Außerhalb Deutschlands waren diese Bezüge weniger eindeutig und die Vorliebe für Nukleartechnik war weniger politisch zugeordnet, anders als hierzulande gab und gibt es in den englischsprachigen Staaten einen wahrnehmbaren Ökomodernismus, Leute die dem Klimawandel mit nuklearer Technik entgegentreten wollen und mit ihrem Einsatz Energieproduktion und CO2-Emission entkoppeln wollen. Allerdings waren die Ökomodernisten für einen strukturaffirmativen Konservatismus nicht anschlussfähig.
Mit dem Wegfallen der nuklearen Option bleibt dem nichtlinken Diskurs am Ende nur noch der negative Bezug auf die ökologische Transformation, d. h. wesentliches Trachten erklärtermaßen nichtlinker Politik ist das Verhindern eines ökologischen Wandels der Volkswirtschaften. Das geht, indem man an den alten Rohstoffindustrien festhält wie in den USA und derzeit insbesondere in Australien, diesen ein letztes Mal einen flächenzehrenden Spätfrühling verschafft, oder indem man wie in Deutschland, sich am motorisierten Individualverkehr festklammert. In beiden Fällen geht es darum, Technologien zu beschützen und zu befördern, die als nicht zukunftsfähig erkannt worden sind. Damit ist die Hoffnung verbunden, Strukturen der Vergangenheit konservieren zu können.
Angesichts eines menschengemachten Klimawandels ist diese politische Strategie allerdings an ihre Grenze geraten und ist inzwischen darauf angewiesen, sich gegenüber einer Verwissenschaftlichung des Politischen negativ zu positionieren (oder wie in den USA eine Parallelwissenschaftsstruktur aufzubauen). In den USA ist all das weit deutlicher ausgeprägt als hierzulande, europäische Konservative sind noch nicht so weit, sich explizit antiwissenschaftlich zu positionieren und negativ auf Zukunft will man sich auch noch nicht beziehen. Bis die For-Future-Bewegungen aufkamen. Diese waren zwar in einem engeren parteipolitischen Sinne nicht explizit links, aber da sie alle auf einen Gesellschaftswandel als Problemlösung setzten, sind sie für strukturaffirmatives politisches Denken nicht anschlussfähig. Conservatives for Future wären derzeit nicht vorstellbar, insofern tritt die Ökologie-Industrialismus-Achse die Nachfolge der alten das 20. Jahrhundert bestimmt habenden Rechts-Links-Achse an.
Auch deshalb ist derzeit rechts der Mitte nur wenig Zukunft zu finden, einen globalen Gegner gibt es nach wie vor nicht und allzu aggressiver Nationalismus als Ventil für verletzte politische Gefühle steht auch nicht wirklich zur Verfügung. In EU-Europa ist für derlei Zwecke noch die Europäische Union da, die sich mit Mühen als Großfeind konzeptualisieren lässt und bei der man all das anlasten kann, das im politischen Alltagshandgemenge nicht so recht gelingen mag. Diese Konstellation führte in UK zum knappen Ja für einen Austritt aus der Union, im Osten der EU ist die damit verbundene politische Gefühlslage derzeit die sichere Basis für Mehrheiten nationalpopulistischer Regierungsparteien wie PIS und Fidesz.
Austerität, knapper Staat, die Ablehnung von Big Government sind die anderen utopischen Bezugspunkte rechts der Mitte, in unterschiedlichen Ländern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. In den USA hatten schon vor Corona republikanische Präsidenten die Staatshaushalte disrumpiert und in Folge von Steuersenkungen Defizite hinterlassen. In Europa und Deutschland gehen aktuell die Erträge sparsamen Staatswirtschaftens den Bach herunter, dennoch entfaltet sich gerade ein moralisch aufgeladener Streit um die alten Schulden der Kommunen. Da stehen sich Akteure Rechts der Mitte und Linkere gegenüber. Während die einen kommunale Altschulden auffangen wollen, beharren die anderen darauf, die schuldigen Schuldner auch künftig zahlen zu lassen. Symptomatisch in diesem Zusammenhang waren auch Äußerungen von CDU-Wirtschaftspolitkern, die sich sehr darüber freuten, dass bei der Lufthansa-Rettung Linke und Grüne keine Gelegenheit erhalten würden, ihre politischen Vorstellung an einer Fluggesellschaft auszuagieren.
Auffällig ist, dass es rechts der Mitte derzeit keine positiven Bezugspunkte, wo es hingehen soll, gibt, aber umso mehr negative: Kein ökologischer Strukturwandel, keine Kompensation kommunaler Altschulden und keine überschießenden Staatsausgaben, das sind derzeit die bei Licht besehen recht bescheidenen konservativen Utopien, vielleicht noch kein Ausbau der Bahn zuungunsten der Straße und als einzige positive Utopie die Idee, wie gehabt, Straßenbaugeld des Bundes nach Bayern zu channeln, um im Land weiterhin Straßenbaumittel des Bundes als regionalpolitische Schmierstoffe einsetzen zu können. Für einen Zukunftsdialog ist das alles zu wenig. Für ein politisches System verheißt es nichts Gutes, wenn einer Hälfte des Spektrums Vorstellungen einer Zukunft fehlen.
Und all das heißt auch nicht, dass links der Mitte alles gut wäre. Gerade im Grünen Spektrum hat eine unheilvolle Mischung aus technik- und noch mehr expertenkritischem Romantizismus, halbverstandenem Poststrukturalismus und einer Erfolgsverwöhntheit infolge des Erfolgs beim Atomausstieg dafür gesorgt, dass auch dort wenig von der Zukunft erwartet wurde. Jenseits von Ökologisierung und Nachhaltigkeitsorientierung war da nicht viel. Demzufolge waren Grüne utopische Projektionen nicht notwendigerweise nach vorn gewandt, ganz im Gegenteil. Vielmehr gab und gibt es da einiges an Kitsch, Kreislaufwirtschaften ohne Gentechnik ohne Wachstumslogik, Digitalisierung und Robotisierung wurden eher mit Skepsis beäugt. Solche Denkweisen schlagen schnell durch, wenn aus irgendeinem Forschungsbereich etwas tatsächlich Neues kommt, trifft dieses Neues allzu oft auf einen Diskurs der da raunt „es gibt da gar nichts zu sehen, bitte gucken Sie woanders hin“. So geschehen beim agrarpolitisch motivierten Grünen Diskurs über Perspektiven Grüner Gentechnik nach der Erfindung von Genome-Editing-Verfahren.
Das soll heißen: Bislang hat es der Grüne Diskurs dem konservativen eher einfach gemacht, bei seinen eingefahrenen Denkweisen zu bleiben. Gerade in Deutschland war das angesichts des weitestgehenden Fehlens ökomodernistischer oder transhumanistischer Denkanstöße einfach zu bewerkstelligen, denn das führte dazu, dass sich das Befürworten von Nuklear- oder Gentechnik als „rechts“ abtun ließ. Es genügt, ein bisschen was von „Technologieoffenheit“ zu raunen und schon war flugs in Vergessenheit geraten, dass es eigentlich ja darum ging, Technostrukturen der Vergangenheit mit ordentlich Staatsknete noch ein bisschen am Leben zu halten. In den letzten 12 Monaten häufen sich allerdings Anzeichen, dass es bei dieser Konstellation nicht bleibt.
* Die sog. M-Bahn führte in West-Berlin vom Gleisdreieck bis zum Kemperplatz (da ist heute eine Einfahrt zum Tiergartentunnel). Die 1989 für den Personenverkehr eröffnete 1,6 km lange Strecke wurde 1991 wieder abgebaut, weil sie dem Bau der U2 als Verbindung von City-West und -Ost im Wege war.