Eine Stegreifskizze zur Bürokratisierung von Hochschulorganisationen

Wolf Lotters vielgeteilter am 10. April im Standard erschienener Essay von der Diktatur des Bürokratiats enthält einige interessante Bezüge zu Veränderungen des Bildungssystems und der Universitäten, man muss sie allerdings gegen den Text suchen. Der Hauptstrang des Textes ist eine organisationskulturpessimistische Diagnose wie Funktionsträger mittlerer Bildung wahre, echte Kreativität ersticken. Dazu unterscheidet Lotter zwischen guter Verwaltung, die Dinge ermöglicht, den sprichwörtlichen Laden am Laufen hält und ihrer bösen Schwester, der Bürokratie. Dieser macht Lotter flugs zur Neobürokratie, die sich moralisch aufblase und leidenschaftlich explodiere, sie sei bevölkert von Leuten mit einem feinen Gespür für die Privilegien anderer, die nicht müde würden, ihr eigenes Wirken als Dienst an der Menschheit auszuflaggen. Ursache der Misere seien, so Lotter, akademische Ausgebildete Leute in Sachbearbeitungsfunktionen, die ihre Sinnbedürfnisse stillten und damit diejenigen, die wirklich etwas arbeiten von wirklicher Arbeit abhielten.

Diese Entwicklung, so Lotter weiter, würde ungerechtfertigterweise dem sog. Neoliberalismus zugeschrieben, dabei sei das, was sich da entwickelt habe, doch eigentlich nur Superindustrialismus. Was Lösungen sein könnten, da spekuliert Lotter nur, soll man die echten Kreativen von den Neobürokraten trennen, sollen Kreative nur diejenigen einstellen, die etwas wissen, was die Einstellenden selbst nicht wissen. Man wisse es nicht, meint Lotter. Lotter meint, das Sinnstreben derer, die früher mit mittlerer Bildung Sachbearbeiter*innen geworden seien, führe nun dazu, dass hypertrophe Bürokratien zu Moralbürokratien ausgewachsen seien, deren Insass*innen im Rahmen ihrer Wünsche, geistig erfülltere Leben leben zu dürfen als ihre Vorgängergenerationen den Rest der Welt mit moralischen Ansprüchen überzögen, ihn bewerten, mit Zertifizierungs- oder Compliancepflichten konfrontierten, so dass den wirklich Arbeitenden immer mehr gegenüber und im Wege stünden, die ihnen das Arbeiten betreuen wollen.

Etwas vage bleibt für mich, ob Lotters Kritik eigentlich konservativ gelesen werden muss, oder ob es sich einfach nur um locker dahingeschriebene Bürokratiekritik handelt. Konservativ gelesen stünde der Text auf Schultern von Autoren wie Ortega y Gasset, die sich Ende der 1920er Jahre um die Entwicklung europäischer Gesellschaften, sagen wir mal nettestmöglich, sorgten. Ihr Problem war, dass „gewöhnliche Menschen“ Einfluss einforderten und ihr Gewöhnlichkeit nicht mehr als Makel oder als Grund sich in Hinblick auf die öffentlicher Sache Zurückhaltung aufzuerlegen wahrnehmen.

Interessant für mich ist Lotters Text jetzt nicht wegen seiner Bürokratiekritik, die, wie schon am vorvergangenen Wochenende auf Twitter besprochen, etwas in der Luft hängt, sondern wegen seines Nebenbezuges auf den Wandel der Universitäten und universitärer (Aus-)Bildung. Wo diese sich in ihrer Humboldtschen Variante ursprünglich an 5 % der Männer wandte, sind heute gut 50 % der Jahrgänge beider Geschlechter Klientel der Universitäten und Hochschulen. Dass damit vielen Menschen Potentiale, ein sinnerfüllteres Leben führen zu können, in die Hand gegeben werden, ist uneingeschränkt zu begrüßen und anders als Lotter bin ich alles andere als sicher, ob darin eine der Wurzeln aktueller neobürokratischer Übel zu sehen ist, aber den Sachverhalt Expansion der Hochschulen und seine Folgen ins Auge zu fassen, lohnt sich dennoch.

Und zwar, weil es einen Seitenblick auf Probleme der Universitäten und Hochschulen nach 1990 erlaubt. Denn die Universitäten vermochten es nicht, für sich und die letzten 30 Jahre eine überzeugende institutionelle Selbstbeschreibung zu entwickeln. Positiv konnten sie ihren post 1970 Wandel nicht beschreiben und verstrickten sich deshalb in Narrativen von gruppenuniversitärer Lähmung, unstatthafter Politisierung, Bürokratisierung und Verschulung. Das Selbstverhältnis der Organisationen war, was die 1990er Jahre betraf, ganz überwiegend negativ. Das reichte so weit, dass man als Hochschule in den Nuller Jahren des neuen Jahrhundert keinesfalls so sein wollte, wie man meinte, in den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. Verwaltungseliten dieser Organisationen hatten dementsprechend ein Bild kultiviert, nach dem eins der gravierendsten Probleme der Universität des späten 20. Jahrhunderts leistungsschwache aus falschen Gründen in wissenschaftliche Dauerbeschäftigungen geratene Leute seien. Die Folgen dieses Mindsets einer ganzen Kanzler*innengenerationen werden jetzt gerade von #ichbinhanna bearbeitet.

Eine andere Folge davon war, dass Universitäten jenseits der Flucht in wolkige Diskursuniversen wie Exzellenz kaum Vorstellungen zu entwickeln vermochten, wie sie sich als normale Institutionen einer der Verwissenschaftlichung unterliegenden Gesellschaft aufstellen könnten. Nichtexzellenzfähige Universitäten mussten dadurch notwendigerweise defizitär wirken, was nebenbei auch dazu führte, dass das deutsche Wissenschaftssystem sein Alleinstellungsmerkmal, anders als das US-amerikanische auch in der Breite und Fläche des Landes akzeptable bis gute Institutionen zu haben, semantisch aufgab. Das hat mittel- und langfristig Folgen für den deutschen Föderalismus, insbesondere den Bildungsföderalismus, wenn ganze Regionen, ganze Bundesländer nicht mehr am Exzellenzspiel teilnehmen können.[1]

Und auch in einem anderen Segment des Wissenschafts-, besser Hochschulsystems könnten die Dinge gerade besser stehen. Statt einen Aufbruch der vormaligen Fachhochschulen zu Forschungsorientierung mit Nachhaltigkeitszielen und Großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu verbinden und damit anwendungs- und auch regionaler orientierte Forschung aus der Klammer ebenso lokaler wirtschaftlich und regionalpolitisch motivierter Engführungen zu befreien, verliert sich die Diskussion gerade im Klein-Klein der Interessen. Sich von der Diskussion ihrem Selbstverständnis nach bedroht fühlende Akteure wie die Forschungsallianz für den Mittelstand, meinen, eine solche Instanz brauche es doch gar nicht, weil es sie schließlich schon gebe. Ob es dem BMBF gelingen wird, auf Grundlage dieses Interessendickichts noch ein überzeugendes zukunftsweisendes Konzept vorzulegen, wird hier und da nicht zu Unrecht bezweifelt.

Aber das Problem ist nicht nur von oben vertrackt, sondern auch von unten. Viele Fachhochschulen sehen sich von der Aufgabe, strategischer, selbstbeschreibender zu werden überfordert. Vor dem Hintergrund ihrer organisationalen Schwäche und der Kleinheit ihrer geringen Reflexionsressourcen ist das einerseits nicht überraschend. Dort ist weder viel strategische Kompetenz noch eine tiefere  organisationale Resilienz vorhanden, weshalb es zu bürokratisch aufgezogenen Förderprogramme es BMBF immer wieder vermögen, die Fachhochschulen in einen Strudel aus Selbstlähmung und überbordender Bürokratie zu stürzen. Diese Bürokratie scheint dann auch den Wandel hin zu mehr Forschungsorientierung eher zu stören als ihn zu beleben.

Konfrontiert mit Aufgabe, ihrerseits Transferstrategien zu entwickeln, die regionale Besonderheiten reflektieren, interpretieren viele Fachhochschulen die Aufgabe vor allem als Marketingaufgabe. Sie begeben sich damit der Chance, in den Regionen auch zivilgesellschaftliche Netzwerke zu knüpfen und einen Beitrag zur Demokratieentwicklung in den Regionen zu leisten. So ist leider eine langweilige Gleichförmigkeit zu erwarten und die im Rahmen der in Gründung befindlichen Deutschen Agentur für Transfer und Innovation DATI vorgesehenen Regionalcoaches werden überall das Gleiche machen.

Ausnahmen werden sich vermutlich nur dort, wo die Hochschulen ohnehin schon forschungsstark waren und sind, so dass die Differenz zwischen UAS 7-Mitgliedern und anderen größer werden wird. Insofern würde sich unfreiwillig und ganz ungeplant eine Entwicklung wiederholen, wie es sie einige Jahre vorher schon bei den Universitäten gegeben hatte.

[1] Hier ließe sich möglicherweise auch eine Erklärung dafür finden, warum ganze Bundesländer (wie aktuell Mecklenburg-Vorpommern) was ihren Regierungsbetrieb betraf in energiepolitischen Obskurantismus abgleiten konnten.