Sebastian Strunz und Erik Gawel zwei Institutionenökonomen vom UFZ-Leipzig haben in der zum Jahresende online erschienenen Gaia 1/18 zur Debatte um die transformative Wissenschaft veröffentlicht. Sie wollen eine kritische Bestandsaufnahme vorlegen, die mit Peter Strohschneiders Aufschlag beginnt und mit mehreren Reaktionen von u. a. Armin Grunwald, Uwe Schneidewind und mir fortgeführte wurde, vorlegen. Ihre Kritik der transformativen Wissenschaft hebt zum einen darauf ab, dass deren Vertreter nicht klären würden, ob es bei transformativer Wissenschaft um ein Ergänzen oder ein Ersetzen des bestehenden Wissenschaftssystems gehe, Gavel und Strunz werfen den Vertretern der Transformativen Wissenschaft (TW) in dieser Frage ein Lavieren vor. Den von Uwe Schneidewind und mir in einem Überblicksartikel eingeforderten Umbau des Wissenschaftssystems interpretieren sie als eher als Ersetzen. Ein zweiter Kritikstrang wendet sich der Rolle, die transformative Wissenschaft nach Auffassung ihrer Vertreter in der Gesellschaft spielen soll, zu. In dieser Hinsicht werfen sie den VertreterInnen der TW vor, miteinander unvereinbare Rollen anzustreben.
Gawel und Strunz lehnen sich mit ihrer auf den Vorwurf der Rollenunklarheit bezogenen Argumentation an Roger Pielkes in seiner Monographie The Honest Broker. Making Sense of Science in Policy and Politics vorgestellte vier idealtypische WissenschaftlerInnenrollen an: pure scientist, science arbiter, issue advocat und honest broker of policy alternatives. Jede dieser Rollen habe ihre Berechtigung, sagen sie, zu vermeiden sei lediglich eine fünft Rolle, die des stealth advocats. Pure scientist und science arbiters wollen sie als Rollenoptionen für die Zwecke des Artikels ausschließen, da beide Rollen ein normatives Wissenschaftsverständnis ausschlössen und von einem linearen Wissenschaft-Politik-Verhältnis ausgingen. Gemäß Pielkes Modell sehen sie bei issue advocats das Bestreben, Handlungspoptionen des Politischen einzuschränken, um z. B. einer bestimmten Handlungsoption – für richtig gehaltenen Handlungsoption – den Vorrang zu geben. Honest brokers hingegen würden den politischen Möglichkeitsraum ausweiten wollen. Diese Rollen wiederum würden nicht von einzelnen WissenschaftlerInnen, sondern nur von der Wissenschaft als Repräsentantin verschiedener Zugänge ausgefüllt werden können. TW, oder ihre Vertreter – meinen sie –, wolle wollten nun honest broker und issue advocat zugleich sein, weil sie z. B. vorhätten, in gesellschaftliche Auseinandersetzung zugunsten derjenigen einzugreifen, die am schlechteren Ende von Machtasymmetrien sitzen. Gleichzeitig gebärdeten sich Vertreter der TW aber als honest broker, die den Möglichkeitsraum des Politischen ausweiten wollen, indem sie „technische, soziale und institutionelle Innovationen“ anböten. Jedenfalls an einem konfliktbeladenen Diskurs teilnehmen, indem man Lösungen anbiete und gleichzeitig moderieren zu wollen, das gehe nicht, lautet ihr Vorwurf.
Bei genauer Prüfung der Vorhaltungen gegen die TW zeigt sich allerdings, dass ein Teil des Problems weniger in der TW begründet liegt, als vielmehr in der Art der Vorhaltungen, bzw. der ihnen zugrundeliegenden Denkmodelle. So scheint die Entgegensetzung von Ergänzen und Ersetzen insofern überdreht, als diese zwei Pole möglicher Veränderung des Wissenschaftssystems in dieser zugespitzten Form gar nicht existieren. Hat die moderne Wissenschaft nun die vormoderne ersetzt oder ergänzt? Schließlich gibt es die alten oberen Fakultäten immer noch, nur sind Theologie, Jurisprudenz und Medizin nicht mehr die verwaltenden Praxen (der Seelen, des Staates, der Körper), vielmehr sind sie nun nicht mehr die Spitzen einer Wissenshierarchie, sondern in den Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen integriert. Zudem ist das moderne Wissenschaftssystem quantitativ unverhältnismäßig größer und beziehungsreicher, als das vormoderne. Die Frage, ob es sich bei dieser Transformation von der vormodernen zur modernen Wissenschaft um eine Ersetzung oder Ergänzung handelt, lässt sich mithin nicht beantworten. Ähnlich dürfte es sich bei einem transformativen Übergang von Industriemoderne zu nachhaltiger Moderne verhalten. Wissenschaft, die sich mit nicht transformationsrelevanten oder nachhaltigkeitsbezogenen Fragen beschäftigt, wird nicht verschwinden, so wie es in den letzten Jahrzehnten eigen- und auch fremdrelevanzenorientierte Wissenschaft gegeben hat, wird es diese auch weiter geben. Externe Bezüge wie die Kirche, die Nation, nationale Wettbewerbsfähigkeit oder Wirtschaftswachstum und Technologieentwicklung, individuelle Selbstbestimmung oder -verwirklichung, was immer externe Referenzbezüge von Wissenschaft gewesen sein mögen, werden es weiter sein, nur dass Nachhaltigkeit als ein weiterer starker wissenschaftsexterner Bezug neben ihnen stehen wird. Keinesfalls wird Nachhaltigkeit diesen anderen Bezüge ersetzen oder verdrängen.
Ähnliches gilt für den auf Roger Pielke zurückgreifenden Kritikstrang. Pielkes Modell ist eine vier Felder Matrix, die zum einen danach unterscheidet, wie ein Gesellschaftsbezug der Wissenschaft gesehen wird, im Rahmen eines linearen oder eines Stakeholder-Modells, zum anderen nach zwei alternativen Demokratieverständnissen, dem des Elitenkonfliktes und dem des Interessengruppenkonfliktes differenziert. Bei Annahme linearer Modelle von Politik-Wissenschaft-Kommunikation ist, wenn Demokratie entlang des Elitenkonfliktmodells gesehen wird, der science arbiter das Rollenmodell der Wahl (dann ist ein Entscheidungskontext von Wertekonsens und niedriger Unsicherheit gekennzeichnet und er hat einen Politikbezug); wenn man Demokratie als Interessengruppenpluralismus sieht, der pure scientist (in diesem Fall wären Wertekonsens und geringen Entscheidungsunsicherheit gegeben, der Politikbezug des Entscheidungskontextes würde aber fehlen). Legt man ein Stakeholder Modell zugrunde und sieht Demokratie als einen Elitenkonflikt, dann ist der honest broker gefragt (dies wäre der Fall bei fehlendem Wertekonsens und hoher Unsicherheit in einer Angelegenheit, die keinen Politikbezug aufweist), beim Interessengruppenpluralismus der issue advocat (dann würde wie eben Wertekonsens und geringe Entscheidungsunsicherheit nicht gegeben sein, aber anders als eben ein Politikbezug vorhanden sein).
Der pure scientist ist bei Pielke eher eine Idealvorstellung und existiert in der Realität faktisch nicht; wenn es ihn gäbe, wäre dies ein Wissenschaftler, der sich aus sozialen Auseinandersetzungen raushält, an keinerlei Handgemenge teilnimmt. Zumeist nehmen realexistierenden Akteure diese Rolle nur für begrenzte Zeiträume, Stunden, Tage ein. Alle vier Rollenmodelle haben nach Pielkes Auffassung ihre Berechtigung und ihren Ort, an dem sie am besten zur Geltung kommen können, keins von ihnen ist höherwertiger oder prinzipiell erstrebenswerter. Fünfte Modellrollen sind nicht vorgesehen oder nicht möglich, das gilt auch und sogar insbesondere für das Rollenbild eines science communicators, der vorgibt, einfach nur die Sicht der Wissenschaft kommunizieren zu wollen, das ist – so Pielke – ein direkter Weg zur stealth advocacy, einer nicht zu wünschenden Rollenkonzeption. Einige der Rollen, insbesondere honest broker und science arbiter sind kaum oder nur schlecht von einzelnen WissenschaftlerInnen ausfüllbar und werden Pielke zufolge besser mit Committees oder Beiräten besetzt, die anderen Rollen sind eher Personenrollen.
Gawel und Strunz weichen genau hier von Pielke ab, weil sie bemerken, keine der Rollen würde von Einzelpersonen ausgefüllt werden können, vielmehr würden alle Rollen von der Wissenschaft oder zumindest Fraktionen der Wissenschaft besetzt werden. Damit stellt sich für sie das Problem der Unmöglichkeit für die Wissenschaft oder WissenschaftlerInnenkollektive mehrere Rollen gleichzeitig zu bedienen. Daraus folgern sie für die TW, dass sich sich (als Kollektiv) entscheiden müsse, welche Rolle sie besetzen möchte. Pielkes Modell gibt diese Problemherleitung allerdings nicht her und ebenso wenig den daraus hergeleiteten Vorwurf.
Es stellt sich aus meiner Sicht darüber hinaus auch die Frage, inwiefern Pielkes Modell geeignet ist, Perspektiven der TW zu diskutieren, denn es scheint mir eher geeignet, allgemeine Beobachtungen zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft anzustellen. Für die Frage, wie sich TW weiterentwickeln ließe, scheinen mir andere Zugänge ertragreicher, z. B. Robert Hoppes Anschluss an ein Modell aus der älteren Wissensverwendungsforschung der frühen 1990er Jahre. Hoppes Modelle, ebenfalls WissenschaftlerInnenrollenmodelle, die ebenfalls in einer Vier-Felder-Matrix organisiert sind, orientieren sich zum einen daran, ob der Politik oder der Wissenschaft ein Primat zukommen soll, zum anderen daran, ob die Logiken von Wissenschaft und Politik als konvergent oder divergent gesehen werden. Er will wissen, worin die Beziehung von Wissenschaft und Politik im Rahmen der Modelle besteht, ob es um Lernen, Problembewältigung, Munitionierung in der politischen Auseinandersetzung und mehr geht. Mit diesem komplexeren Modell ließe sich eine Vielzahl von WissenschaftlerInnenrollen modellieren und ein wesentlich realitätsangemesseners Bild der Interaktion von Wissenschaft und Politik nachzeichnen. Transformative Wissenschaft ließe sich problemlos in diesen Rollenkosmos integrieren.
Ein drittes Problem in Gawel und Strunz Analyse liegt auf einer anderen Ebene, nämlich darin, dass Nachhaltigkeit gar nicht als zu entscheidende Alternative im politischen Raum ankommt, zumindest insofern nicht, als die Politik nicht über Nachhaltigkeit oder Nichtnachhaltigkeit entscheidet, sondern über einzelne Themen wie CO2-Reduktion, Ausbau von Wind-, Wasser- oder anderer Kraft etc.. Nichtnahhaltigkeit ist dabei kein erklärtes oder auch nur erklärbares Politikziel (und damit in Pielkes Sinne auch keine Policy-Alternative), die Policy-Alternative ist allenfalls die Bewahrung konkreter eher für nichtnachhaltig zu haltender Arrangements wie Braunkohleabbau, Kohleverstromung, Verbrenner-MIV-Orientierung in der Mobilitätspolitik.
Gawel und Strunz Optionsraumargument aufgreifend, wäre die politische Frage in diesem Zusammenhang dann, ob Politik den Optionsraum haben sollte, darüber zu entscheiden, ob sie Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen will oder nicht. Es scheint zumindest unklar, ob ein erhaltenswerter Optionsraum des Politischen darin liegen soll, Nachhaltigkeitsaspekte nicht zu berücksichtigen. In der Vergangenheit war politische Entwicklung eine Ausdehnung politischer Handlungsfelder, Politik begann sich mit Gegenständen zu befassen, die bis dahin nicht ihre waren: Geschlechtergerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, innerfamiliäre Gewalt. Bei all dem erscheint die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn Politik sich mit diesen Gegenständen gar nicht befassen würde, zumindest begründungspflichtig. Für eine solche Begründung müsste ein Nachweis, zumindest eine stark begründete Behauptung gelingen, dass Politik und Gesellschaft gewännen, wenn Politik von einem Thema lassen würde. Ich bin unsicher, ob das im Falle von Umweltpolitik gelingen kann. Von daher erscheint es unklar, warum Wissenschaft wenn sie mit Politiken, die die Erhaltung nichtnachhaltiger Arrangements zum Gegenstand haben, konfrontiert ist, schweigen sollte, will sie nicht Gefahr laufen der Advocacy geziehen zu werden.
Womit eine Frage erreicht wäre, die weit über die TW hinausgreift und das Politik-Wissenschaft-Verhältnis als ganzes betrifft. Wie sollen sich WissenschaftlerInnen verhalten, wenn sie mit politischen Praxen und Verhaltensweisen konfrontiert sind, die vor dem Hintergrund ihres Wissens epistemisch unverträglich, vulgo unsinnig erscheinen? Pielke hat in seinem im Blog verlinkten Video diese Frage adressiert, und gefragt, ob es sein könnte, dass Wissenschaftler an ihren Aussagen herummanipulieren, weil sie erwarten, dass das, was sie sagen werden, auf eine bestimmte negative politische Rezeption treffen wird, das aber steht auf einem anderen Blatt. Es wäre ein allgemeines wissenschaftsethisches Problem.
Wissenschaftstheoretisch befänden sich Gawel und Strunz mit ihrer negativen Bewertung von Advocacy sogar im Widerspruch mit Pielke, der sagt, dass es gar nicht möglich sei, als Wissenschaftler in der Gesellschaft zu kommunizieren, ohne politisch zu werden. Gavel und Strunz erheben nun aber genau diesen Anspruch, wenn sie sagen, dass Wissenschaft von politischem Engagement korrumpiert werden würde. Sie sagen darüber hinaus, TW würde insinuieren, dass transdisziplinäre zur Gesellschaft geöffnete Forschung aus disziplinärer Perspektive verlustfrei möglich sei; dabei insinuieren Vertreter der TW oder gar die TW dies gar nicht, sie beschäftigen sich lediglich bislang nicht mit dieser Frage, worin ein gewichtiger Unterschied zu sehen ist. Andererseits ligt genau hie eine hochinteressante Forschungsfrage: die Frage, was genau aufgegeben werden müsste, wenn Forschung ihre disziplinären Resonanzräume, die ja auch Sicherheit über die Relevanz von Fragen stiften und manches kritisches Nachfrage einerseits ermöglichen, andererseits ersparen. Ebenso ließe sich Gawel und Strunz vorhalten, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, was sich aus wissenschaftlicher Sicht mit der Öffnung zu Zivilgesellschaft und großen Herausforderungen gewinnen lässt.