Das Identifizieren und Kommunizieren von Leistungslücken gehört zum Alltag von Organisationsspitzen, deshalb lassen sie Evaluationen, Rankings und Ratings durchführen. Industrieverbände, die sich aus Organisationsspitzen zusammensetzen und ihrerseits Organisationen sein können, verhalten sich ganz ähnlich und lieben deshalb Projekte und Studien, die die Leistungsfähigkeit ihrer Industrie(n) zum Gegenstand haben. In aller Regel haben solche Studien irgendeinen Mangel zum Gegenstand. Stets wird ein Rückstand beklagt, oder dass man Gefahr laufe, den Anschluss zu verlieren, abgehängt zu werden, zurückzufallen. Deutschland laufe diese Gefahr heißt es, oder die USA. In tatsächlich zurückliegenden oder –fallenden Ländern sind solche Studien eher seltener, weil sie strittiger sein müssen. Die Klage richtet sich an die eigenen Organisations- oder Verbandsmitglieder, die sollen mehr machen, sich anstrengen, mehr Aufwand für F&E tätigen. Ein anderer Adressat solcher Studien ist der Staat, die Politik, die Gesellschaft. Ist Politik und Gesellschaft der Adressat, dann geht oftmals um ein abstraktes Ziel wie Innovationsfähigkeit, denn die, zumindest aber das Führendsein dabei, ist stets bedroht. Es geht dann um Subventionen, unkonditionierte Steuervorteile auch für diejenigen, denen alle Möglichkeiten der Steuergestaltung offenstehen (so z. B. bei den Plädoyers für eine steuerliche Forschungsförderung), einen laxen politischen Umgang mit Risiken, den Bau von erwünschten Verkehrs- oder Kommunikationsinfrastrukturen etc..
Ein bei Industrieverbänden beliebter Mangeltatbestand ist der Ingenieurmangel. Er droht stets und wenn es ihn gibt, ist die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft dadurch begrenzt. Theoretische Grundlage der Ingenieurmangelklage ist ein tonnenideologisches Paradigma, das davon ausgeht, dass Volkswirtschaften mit hohen Ingenieursanteilen unter den abhängig Beschäftigten erfolgreicher sind als solche mit geringeren. Deshalb muss es ein Problem sein, wenn viele Leute etwas anderes studieren. Insbesondere in den USA kommt immer wieder eine nationale Komponente hinzu, angesichts dessen, dass neben der Agrarindustrie die IT-Industrie der zweite Industriezweig ist, der auf (Arbeits-)Immigration existentiell angewiesen ist, nur geht es hier nicht um mexikanische WanderarbeiterInnen, sondern um indische HochschulabsolventInnen.
Der Ingenieurmangeldiskurs hat eine wirtschaftspolitische und eine bildungspolitische Form. In der wirtschaftspolitischen Form erlaubt er Wirtschaftsverbänden, ihre Forderungen an die staatlich finanzierte Bildungspolitik zu artikulieren, man kann als Industrievertreter sagen, was man von Universitäten, Hochschulen und der Hochschulpolitik erwartet: MINT-Fächer fördern. Universitäten neigen dann auch dazu, das zu tun und halten wenig nachgefragte ingenieurwissenschaftliche Studiengänge aufrecht, zum einen, weil sie drittmittelintensiv sind, zum anderen, weil sie politisch beliebt sind und nicht zuletzt, weil ihre Wiedereinrichtung schwer fallen wird.
In seiner bildungspolitischen Form ist er eine ständig aufrechterhaltene Forderung an QualifikandInnen, doch bitte natur- oder ingenieurwissenschaftliche Fächer (MINT-Fächer) zu studieren, weil das Land (Deutschland) das braucht und weil das individuell sichererer Beschäftigungsperspektiven erlauben würde. Die Aufforderung, MINT-Fächern eine Vorzug vor sozialen oder kulturellen Interessen oder der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu geben, hat einen moralischen Charakter.
Ingenieurmangel, ein empirietranszendenter Tatbestand?
Ingenieurmangel als allgemeinen Mangel muss es allein schon deshalb geben, damit dieser individuelle (moralische) Aufforderungscharakter, Irgendwas mit MINT zu studieren, aufrechterhalten werden kann. Allgemeiner Ingenieurmangel in seiner Erscheinungsform des moralischen Postulats) ist damit auch unabhängig von konkreten fach- oder branchenspezifischen Ingenieurbedarfen, die halt manchmal dafür sorgen können, dass es hier und da ein Überschuss an AbsolventInnen des einen oder anderen Ingenieurfaches gibt. Deshalb können in bestimmten Abständen auftretende mediale Berichterstattungen über Schweinezyklen bei Ingenieurfächern auch nicht irritieren. Diese Empirieunabgängigkeit und der fallunabhängige Geltungsanspruch markiert den Ingenieurmangeldiskurs als einen (wenn auch speziellen) Teildiskurs des allgemeinen Fachkräftemangeldiskurses.
Der allgemeine Fachkräftemangeldiskurs
Ingenieurmangel ist ein Unterfall von Fachkräftemangel (FM). Fachkräftemangel wiederum ist in seiner Wolkigkeit ein seltsamer Begriff, der Fachkräftemangeldiskurs ist ein nicht minder seltsamer Diskurs. Auf den ersten Anschein gewinnt man den Eindruck, es handele sich um einen Mangel an Menschen, mithin ein demographisches Problem, welches eintritt, weil Geburtsjahrgänge kleiner ausfallen als vorherige. Bei genauerem Überlegen wird klar, dass das so nicht sein kann. FM ist – so wird dann deutlich – ein soziales Problem, muss dann also auch aus sozialen Faktoren heraus erklärbar sein, so dass Demographie nur noch ein Teilfaktor sein kann. Was aber sind dann die Diagnosen, die dazu führen von FM auszugehen.
Zum einen ist FM ein Produkt des Arbeitsmarktes selbst, genauer er wird vom Handeln von PersonalerInnen erzeugt, die Stellen mit fertigen, perfekt passenden BewerberInnen besetzen können wollen. Die BewerberInnen sollen möglichst jung, berufserfahren, kreativ sein, aber nicht anecken, tolle Netzwerke haben, aber nicht eigensinnig sein etc und sie sollen genau für die zu besetzende Position passen, mit den o. g. Kriterien. Kein Mangel herrscht angesichts solcher Maßstäbe erst dann, wenn man selbst dann, wenn all die genannten Kriterien erfüllt sind, noch zwischen mehreren BewerberInnen aussuchen kann. Verschärfend kommt hinzu dass es bei Personalfachkräften eine Neigung gibt, Stellenprofile immer enger zu fassen, immer genauer auszurichten.
Will man, dass künftig – also morgen – viele BewerberInnen zur Verfügung stehen, dann ist es vernünftig, heute von einem Fachkräftemangel zu reden, das kann im Idealfall dazu führen, dass sich heute viele auf den Weg der Qualifikation zu Fachkräften machen, auf diesem Weg kann es gelingen, Qualifikationskosten an die Bewerber oder die Gesellschaft zu externalisieren.
Der Begriff Fachkräfte stellt in seinem ersten Wortteil auf Erwartbarkeit in seinem zweiten auf Disponibilität ab. Fachkräfte sind Leute, die Erwartbares, also nicht notwendigerweise das Überraschende, können, ferner sind es Leute, über die man verfügen kann: -kräfte. WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, SportlerInnen, ja selbst ManagerInnen werden eher nicht unter dem Begriff Fachkräfte subsumiert, entsprechend ungebräuchlich sind Komposita wie Forschungskräfte, Sing-, Sport- selbst Managementkräfte, allenfalls gibt es Führungskräfte, stattdessen aber gibt es Lehrkräfte, Reinigungskräfte, Arbeitskräfte. Kräfte sind damit von den Führungskräften abgesehen eher im mittleren Segment des Wertschätzungsspektrums angesiedelt.
Die Disponibilität wird mit dem Terminus Kräfte adressiert: Kräfte sind immer Viele, sie obwalten unabhängig von Persönlichkeit oder Spezifizität, deshalb kann man sie austauschen, durch andere ersetzen, umschlagen. Es liegt in der Logik vieler Arbeitsmärkte diesen Umschlag vorzunehmen. Aufrechterhalten lässt sich ein solcher Fachkräfteumschlag immer dann am besten, wenn genug davon da sind, allein deshalb ist es stets nötig, ihren Mangel zu thematisieren.