Anmerkungen zum Positionspapier Große gesellschaftliche Herausforderungen des Wissenschaftsrates

Der Besinnungsaufsatz ist nicht unbedingt das Genre, das man vom Wissenschaftsrat erwarten würde. Gleichwohl machen die das manchmal, in aller Regel heißt das Ergebnis dann Positionspapier. Dahinter verstecken sich zumeist mehr oder minder heftige Kontroversen, über die man offiziell nichts erfährt, weil es nicht zur Verfahrensweise des Wissenschaftsrates gehört, interne Differenzen offen zu legen. Gleichwohl bleibt es nicht aus, dass manchmal etwas nach draußen sickert, so auch in diesem Fall. Ende April letzten Jahres hatte bereits ein Entwurf für eine erste Lesung vorgelegen, dieser Entwurf soll einen Umfang von 130 Seiten gehabt haben. Für die Sitzung im Herbst 2014 wurde er überarbeitet und gekürzt und daraufhin auf die Wintersitzung vertagt. Auf der Wintersitzung wurde das Papier wiederum weiterverschoben, um auf der Aprilsitzung dann endlich beschlossen zu werden. Das dann beschlossene Positionspapier hat einen Umfang von knapp 30 Seiten. Es hat das Ziel, – so sagt die Einleitung – die Orientierungsfunktion großer gesellschaftlicher Herausforderungen zu klären. Das heißt auch, dass das Papier in seiner nun vorliegenden Form darauf verzichtet, konkrete Beispiele, Akteure und Erwartungen zu benennen, obwohl dies zu einem früheren Zeitpunkt der Debatte einmal beabsichtigt war.. Ich werde das Papier kurz vorstellen, dann den Versuch einer politischen Einordnung vornehmen.

Das Positionspapier des Wissenschaftsrates
Das Papier beginnt mit einer historischen Einordnung des Diskurses über große gesellschaftliche Herausforderung (künftig GgH). Der Wissenschaftsrat sieht diesen Diskurs in einem allgemeineren innovationspolitischen Diskurs verankert, der wiederum einer Wellenbewegung zwischen eher konkret technologiebezogenen und allgemeiner (innovations )systembezogenen Ansätzen unterliege. Eine andere Wurzel des GgH-Diskurses liege im Diskurs über den Klimawandel, der spätestens zur Jahrtausendwende, die Forschungspolitik erreicht habe. Berührungspunkte gebe es zu Diskussionen über Nachhaltigkeitswissenschaft, Modus 2 Forschung und Transdisziplinarität.
Im GgH-Diskurs sei all dies 2008/2009 zusammengeführt worden und im Ergebnis sei es zu Ansätzen, gar schon Vollzügen einer umfassenden Neugestaltung europäischer Forschungsförderpolitiken gekommen. Auch in das Rahmenprogramm Horizon 2020 sind die GgH unter dem Namen Grand Challenges eingeflossen, fast 38 % der Forschungsmittel sollen herausforderungsbezogen ausgegeben werden (S. 10). Als GgH genannt werden in Anlehnung an die Europäische Kommission die folgenden zehn Themen: (1.) Gesundheit, (2.) Demographischer Wandel und „Wohlfahrt“ (Wellbeing), (3.) Lebensmittelsicherheit, (4.) Nachhaltige Land- und Forstwirtschaft, (5.) Wasserforschung und Bioökonomie (Water Research), (6.) sichere, saubere und effiziente Energie, (7.) Smarter, Grüner und integrierter Transport, (8.) Klimabezogenes Handeln, Umwelt, Ressourceneffizienz und Rohmaterielien, (9.) Europa in einer sich wandelnden Welt, inclusive, innovative und reflexive Gesellschaften, (10.) Sichere Gesellschaften – Schutz der Freiheit und Sicherheit Europas und seiner BügerInnen .
Auch die Hightech-Strategie des Bundes wolle „Deutschland zum Vorreiter bei der Lösung globaler Herausforderungen machen“, die Tendenz technologiespezifische Initiativen durch themenorientierte Rahmenförderprogramme zu ergänzen verstärke sich.
Mehrere Landesregierungen hätten inzwischen an den GgH-Diskurs angedockt (so Nordrhein-Westfalen mit der Forschungsstrategie Fortschritt NRW) oder Baden-Württemberg mit der Nachhaltigkeitsstrategie „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ und auch die großen Forschungsgesellschaften mit ihren außeruniversitären Instituten.
Übergreifendes Charakteristikum des GgH-Diskurses sei dass gesellschaftliche Problemlagen zu wissenschaftlichen Fragestellungen gemacht werden (16). Das sei zwar eigentlich nichts Neues aber GgH würden jedoch mit ihrer globalen und transnationalen Verortung gesellschaftlicher Probleme das Verständnis von der Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft in einen neuen Rahmen stellen. Im dann anschließenden Zwischenfazit (S. 17-18) stellt der Wissenschaftsrat fest, dass der GgH-Diskurs fest etabliert sei, gleichwohl möchte der WR mit seinem Papier zur Klärung ebendieses Diskurses beitragen.*

Im zweiten Teil des Papieres wird die Listenstrategie des GgH-Diskurses aufgegriffen. Der Wissenschaftschaftsrat wendet sich hier sieben Desideraten zu. Zunächst werden drei demokratie- bzw. öffnungsbezogene genannt: (1.) gelte es, GgH in offenen und pluralistischen Prozessen zu identifizieren; (2.) wissenschaftliches Wissen aus unterschiedlichen Quellen zusammenzuführen und (3.) Grenzen wissenschaftlichen Wissens zu erkennen und offenzulegen. Der Wissenschaftsrat macht sich hier die Agenda der transformationsorientierten Wissenschaft zu eigen. Es folgen dann zwei Desiderate, die sich mit internen Arrangements des Wissenschaftssystems beschäftigen: (4.) verschiedene Koordinationsmechanismen zu benutzen und (5.) die Vielfalt und Selbstkorrekturfähigkeit des Wissenschaftssystems zu erhöhen. Dies sind Plädoyers gegen Eindimensionalität und für Reflexionsorientierung. Ein sechstes Desiderat fordert auf, Instrumente zur Beteiligung von Akteuren außerhalb der Wissenschaft zu erproben und verbindet damit beide Desideratsgruppen. Schließlich setzt sich der WR noch dafür ein, dass (7.) eine Globale Perspektive gestärkt wird. Das Fazit des Papieres schließt mit der Bemerkung, dass die Bedeutung anderer wissenschaftspolitischer Zielvorstellungen durch das Hinzutreten der GgH nicht gemindert wird.

Wissenschaftspolitische Bewertung
Das Positionspapier des Wissenschaftsrates ist, wie schon oben gesagt, faktisch ein Besinnungsaufsatz. Lösungen, konkrete Vorschläge werden gar nicht angeboten und ebensowenig werden Akteure oder Politikinstrumente benannt. Dafür war – wie oben angedeutet – im Wissenschaftsrat offenbar kein Konsens zu gewinnen. Somit bleibt es bei einer Herleitung des Diskurses und einer Beschreibung des Ist-Standes und einem etwas vagen Verweis auf eine gemeinsame Verantwortung wissenschaftlicher und politischer Akteure (S. 18).
Vor dem Hintergrund der in den letzten Monaten durchaus kontrovers geführten Debatte ist dies gleichwohl nicht ganz wenig. Uwe Schneidewind weist in seiner Schnelleinschätzung vom 27. April darauf hin, dass das Wissenschaftsratpapier zivilgesellschaftliche Akteure geradezu auffordert, ihre Positionen in wissenschaftspolitische Diskurse einzubringen, das sehen in der wissenschaftspolitischen Community ja durchaus nicht alle so.
Insbesondere der zweite Teil des Papieres liest sich dann auch wie eine Reaktion auf die aktuell akute Debatte über transformationsorientierte Forschung, die gerade von Vertretern altehrwürdiger Wissenschaftsorganisation (BBAW und DFG) ins Gerede gebracht worden ist. So hat BBAW-Präsident Günter Stock behauptet, dass diejenigen, die von Demokratisierung des Wissenschaftssystems reden würden, eigentlich nur deren politische Indienstnahme im Namen von partikularen Klientelinteressen meinen würden.** Das scheint der Wissenschaftsrat anders zu sehen.
Ebenso wenig möchte sich der Wissenschaftsrat einer Kritik Rot-Güner Hochschulgesetze anschließen, die im Namen einer Gleichsetzung von organisational adressierter Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit jede Art politischer Erwartungen gegenüber dem Wissenschaftssystem zurückweisen will.
Es schein fast so, als sei dem Wissenschaftsrat daran gelegen, etwas Luft aus der Debatte zu nehmen und eine wissenschaftspolitische Weiterentwicklung der Diskussion zu ermöglichen, die in den letzten Monaten errichtete Wagenburg hinter sich lässt. Dies Absicht wäre – so denke ich – zu begrüßen.

* Manche über Diskurse Forschende werden sich hier vielleicht fragen, ob man Diskurse klären kann, egal, wenn vielleicht auch nicht diskurstheoretisch, wird das doch alltagssprachlich funktionieren.

**Die entscheidende Stelle des Redemaniskriptes findet sich unten auf S. 6 und dann auf S. 7.