Transformative Wissenschaft vs. Wissenschaftsfreiheit. Bemerkungen zu einer Scheinwiderspruchsdebatte

Es hat lange gedauert, bis sich die FAZ dem Thema transformativer Wissenschaft angenommen hat. Das ist vor einer Woche dann aber doch geschehen. Wilfried Hinsch ein Philosoph ausweislich seiner Webseite mit Arbeitsschwerpunkten in Gerechtigkeitstheorie, „Krieg und Frieden“ sowie „Begriffen und Methoden der Ethik“ durfte vor einer Woche im Forschung und Lehre Teil unter dem Titel „Die Freiheit der Forschung“ einen Artikel schreiben. Er versteht den Gedanken transformativer Wissenschaft dahingehend, dass die Politik der Wissenschaft in Zukunft Vorgaben zu machen gedenkt, dass es um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik gehe. Diesem Einstieg zum Trotz versucht Hinsch sich insofern in der Debatte um transformative Wissenschaft intermediär zu positionieren, als er sich zwischen denjenigen, die eine bedingungslose Forschungsfreiheit einfordern und anderen, die wissenschaftliche Forschung gerne an gesellschaftlich gefassten Aufgabenstellungen orientiert sähen, positioniert. Freiheit der Wissenschaft sieht er nicht als etwas Wertsphärenbezogenes, sondern als ein Koordinationsprinzip.

Er beginnt bei Uwe Schneidewinds Postulat, Wissenschaft solle nicht nur gesellschaftsverändernd, gesellschaftstransformierend eben wirken, sondern auch an gesellschaftlichen Zielen orientiert sein. Schneidewind meine – so Hinsch – das Wissenschaftssystem sei in seiner forschungsfixierten Eigenlogik erstarrt – und bleibe deshalb, was transformative Effekte angehe, unter seinen Möglichkeiten. Schneidewinds Plädoyer stoße im Wissenschaftssystem auf Widerstand, sagt Hinsch. Damit meint er den Aufsatz „Zur Politik der transformativen Wissenschaft“ den DFG-Präsident Peter Strohschneider vor nicht ganz zwei Jahren in einem politikwissenschaftlichen Sammelband (einer Festschrift) veröffentlicht hat. Hinsch lässt dabei außer Acht, dass es sich bei Strohschneiders Aufsatz genaugenommen um eine Reaktion aus dem Managementkomplex des Wissenschaftssystems handelt, hier schreibt weniger ein seiner Disziplin verbundener Wissenschaftler, als vielmehr ein Spitzenfunktionär einer zentralen nationalen Wissenschaftsorganisation. Dementsprechend schöpfte Strohschneider seine Argumente auch nicht aus seinem Fach der mediävistischen Germanistik, sondern griff, trotz des politikwissenschaftlichen Publikationskontextes seines Aufsatzes, auf Gedanken aus Wissenschaftstheorie und Science Studies zurück. Man könnte also begrüßen, dass sich hier ein Präsident der sonst großen Wert auf disziplinäre Grenzen legenden DFG explizit interdisziplinär positioniert.

Hinsch fasst Strohschneider Position dahingehend zusammen, innovative Forschung löse nicht nur bereits bekannte, gesellschaftliche Bedarfe adressierende Probleme, sondern generiere auch neuartige Fragestellungen, deren gesellschaftliche Relevanz nicht ex ante feststehen kann. Andere noch hätten zu bedenken gegeben, dass sich wissenschaftliche Durchbrüche nicht Zielvorgaben, sondern eigenständigem Denken verdanken würden. Wissenschaftsfreiheit verstanden als individuelle Freiheit der Forschenden (Professor*innen(?)) und Hochschulautonomie als die organisatorische Voraussetzung davon, seien wesentliche Voraussetzungen erfolgreicher Wissenschaft.

Hinsch meint nun, nachdem er dies referiert hat, dass in einer modernen Gesellschaft die Autonomie einer staatlichen finanzierten Wissenschaft nicht im Rekurs auf die autonome Wertsphäre der Erkenntnis legitimiert werden könne, denn es gebe berechtigte Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es eine solche Sphäre tatsächlich gebe. Ein Wissenschaftssystem, das so groß und so teuer sei, wie das gegebene, könne sich Relevanzforderungen schließlich nicht entziehen. Das Problem im Umgang mit der Wissenschaftsfreiheit liege von daher nicht in der Instrumentalisierung der Wissenschaft, sondern in einem mangelnden (außerwissenschaftlichen) Verständnis der Ziele und der Steuerung kollektiver wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse.

Hinsch will nun zwei zentrale soziale Koordinationsmechanismen voneinander unterschieden sehen: auf der einen Seite die Organisation, auf der anderen Seite die spontane Ordnung. Organisationen dienten einem Zweck, Handeln in ihnen werde so ausgerichtet, dass zu der Erfüllung dieses Zweckes beigetragen wird. Dies geschehe mit Hilfe von Hierarchien. Spontane Ordnung hingegen beruhe auf allgemeinen Regeln individuellen Handelns, als Beispiel hierfür dient Hinsch der Straßenverkehr, aber auch Markwirtschaften seien ein Beispiel für spontane Ordnung. Spontane Ordnung zeichne sich dadurch aus, dass alle an ihr Teilnehmenden nur jeweils ihre eigenen Ziele verfolgten und dennoch ein verträgliches Ganzes dabei herauskomme.

Diese Unterscheidung sei nun mit Blick auf die Wissenschaften von großer Bedeutung, dann allerdings sagt Hinsch, dass das Beispiel des Straßenverkehrs doch nicht ganz passe, weil wir mit einem Wissenschaftssystem, in dem die Leute jeweils eigene Ziele verfolgten, nicht zufrieden wären. Deshalb vergleiche Polanyi das Wissenschaftssystem mit einem Puzzle, an dem mehrere arbeiteten, durchaus auch wüssten, dass andere Teile haben, die für die Lösung ihrer Puzzleaufgabe von Bedeutung sind. Weil es aber nicht darum gehe, dass jeder Mitspieler seine Version vervollständige, sondern darum, ein für alle gültiges Bild zu schaffen, gibt es einerseits das, was Merton wissenschaftlichen Kommunismus genannt hat. Andererseits ist es dann sinnvoll, jedem Mitspieler zu ermöglichen, all das, was er für sinnvoll hält, auszuprobieren, dabei aber darauf zu achten, welche Teile die Anderen vor sich haben.

Das Puzzlebild ist nicht schlecht, schließlich greife es die Doppelgestalt des Wissenschaftssystem, dass zum einen das gesamte Unterfangen der Wahrheitssuche organisiert ist, zum anderen es aber darauf ankommt, dass jeder Teilenehmende die Fragen, die er für wichtig hält, auf. Dennoch meint Hinsch scheine das Bild etwas schlicht, wohlmöglich zu schlicht zu sein. Anders als bei einem Puzzlespiel könne es bei wissenschaftlichen Unterfangen nämlich passieren, dass am Ende kein Ergebnis steht oder zumindest kein gemeinsames Bild, auf das sich Alle einigen können.

Aufgabe von Politik sei es nun, diesen Prozess, seine Offenheit und die Möglichkeiten zum Ausprobieren zu schützen. Große Herausforderungen dürfe Politik dabei ruhig stellen, eine Detailsteuerung des wissenschaftlichen Prozesses sei hingegen abzulehnen, insbesondere, weil diese zur Voraussetzung hätte, dass der Steuernde weiß, welchen Weg Wissenschaft beschreiten soll. Warum Hinsch nun in partizipativ-demokratischen Entscheidungsprozeduren genau solch eine Detailsteuerung sieht, wird auf Basis des Textes nicht so recht klar. Denn bei partizipativen Entscheidungsprozeduren muss es nicht notwendigerweise um Steuerung gehen, ebenso wenig kommt es bei Partizipation darauf an, dass Partizipanden wissen, in welcher Richtung sich Wissenschaft entwickeln soll.

Man kann nur vermuten, dass Hinsch in dem Anspruch demokratischer Mitwirkung an der Formulierung von Forschungsfragen oder -agenden bereits den Kern politischer Übergriffigkeit sieht. Damit vertritt er eine historische Erfahrung, die sich in Abgrenzung zu nichtdemokratischen Interventionen in das Wissenschaftsgeschehen gebildet hat und eine Überlegenheit interventionsfreier Wissenschaft gegenüber politisch gelenkter konstatiert. Diese Erfahrung hat sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen und stalinistischen Versuche, Wissenschaft zu determinieren entwickelt. In ihrer Ablehnung von Verirrungen wie Deutscher Physik und Lyssenkoismus und in ihrer generellen Ablehnung politischer Steuerung von Wissenschaft lag die institutionell orientierte (im wesentlichen mertonsche) Wissenschaftssoziologie der Nachkriegszeit also richtig. Es bleibt allerdings fraglich, ob sich ihr Verdikt heute gegen Ansprüche demokratischer Mitwirkung an der Formulierung wissenschaftspolitischer Aufgabenstellung kehren lässt.

Insofern zeigt sich, dass der Widerspruch von Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit mit dem Stellen großer gesellschaftlicher Herausforderungen ein vermeintlicher bleibt. Ganz im Gegenteil, trägt Demokratisierung hier dazu bei, dass Wissenschaft gesellschaftlich stärker werden kann, wenn ihr schließlich nicht wegzudenkende Governance sichtbar auf dem Tisch liegt und nicht unsichtbar in intransparenten Beratungsgremien, Bei – und Hochschulräten abläuft. Die Legitimität wissenschaftsbasierte Rationalität kann sich dadurch nur erhöhen.

Letztendlich ist es nicht die Frage, ob es überhaupt politische Steuerungsansprüche gegenüber der Wissenschaft gibt, sondern wie diese sozial ausagiert werden, ob transparent und demokratisch oder arkan, an Organisationsinteressen angebunden oder autoritär. Eine demokratische Wissensgesellschaft wäre damit eine Gesellschaft, in der offen darüber gesprochen wird, wer was wissen will und für welche Wissensgewinnungsoperationen Geld ausgegeben wird und für welche nicht. Vor dieser Folie ist wenig dagegen zu sagen, Vorstellungen davon, in welche Richtung sich wissenschaftliche Forschung entwickeln soll, vor einem Hintergrund großer gesellschaftlicher Herausforderungen zu entwickeln. Ganz im Gegenteil, solche Herausforderungen können sogar hilfreich sein, stark von ihren zugehörigen Industrien bestimmte Forschungsfelder wie z. B. die Pharmaforschung wieder stärker an wissenschaftlichen und nicht an praktischen, konzernstrategischen oder sonstigen Erwägungen der dort dominierenden Forschungsfinanzierer zu orientieren. Denn dann hätten Wissenschaftler*innen starke Argumente, nicht nur da zu forschen, wo es Geld gibt.