Worauf ein zukunftsorientierter Hochschuldemokratisierungs-diskurs achten muss: Paraphrase eines Interviews mit Steve Fuller

Dass Steve Fuller allen seinen Holzwegen zum Trotz noch immer spannende Gedanken äußern kann, zeigt ein Interviewgespräch das der Soziologe und Bildungsforscher Mike Neary mit ebenjenem Fuller im Zusammenhang eines Buchprojektes geführt hat. Gegenstand des Gespräches waren Academic Leadership (I), die Rolle von Public Intellectuals (II), die Frage warum Academics heute einer so starken Konformitätskultur unterliegen (III) sowie der Stand der Studierendenbewegung (IV). Die in diesem Gespräch geäußerten Gedanken sind nicht unbedingt neu, gleichwohl klug und luzide. Sie knüpfen an den Aspekten an, die vor mehr als zehn Jahren Fullers „The Governance of Science“ zu einer so bereichernden Lektüre gemacht haben. Auf das Buch, wenn es denn hoffentlich in der ersten Jahreshälfte 2016 erscheint, darf man zu Recht gespannt sein.

Academic Leadership (I) sei, meint Fuller, eine amerikanische Institution. Verbunden sei sie mit starken, auch mit starken Finanzen und Stiftungskapitalien ausgestatteten Universitäten, wie sie es in Form der amerikanischen Land-Grant-Universities nur dort gegeben hätte. In Europa seien Rektoren und Präsidenten in aller Regel normale Wissenschaftler*innen, die die Tätigkeit auf Zeit wahrnähmen, bei ihnen komme das Peter Prinzip immer und immer wieder zum Tragen. D. h. immer wieder können man sehen, dass es nicht reicht, eine ausgewiesene Wissenschaftler*in zu sein, wenn es darum geht, ob man eine Universität leiten kann. Das ändere sich langsam, erst seit wenigen Jahrzehnten, das habe aber noch nicht dazu geführt, dass sich ein tatsächlicher Strukturwandel eingestellt habe. Einen anspruchsvollen Diskurs über Academic Leadership gibt es hierzulande (England und Deutschland sind hier gemeint) und auch im Rest Europas bis auf weiteres nicht. Die dünne deutschsprachige Literaturlage universitätspräsidialer Autoren von Morkel bis Müller-Böling (um die zwei Extrempole dieser Literaturgattung zu markieren) bestätigt Fullers Verdikt. Michael Daxner einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, der sich mit AL aus einer demokratieorientierten Perspektive befasst hat, ist in der jüngeren Vergangenheit leider nicht mehr mit hochschulpolitischen Einlassungen aufgefallen.

Damit fehlt in Europa ein ganzes Literatursegment, die sogenannte Präsidentenliteratur (Fuller empfiehlt insbesondere die Arbeiten von Derek Bok), eine Textgattung, die in den USA nicht unwichtig ist, ja das Politikfeld bestimmende Begriffe geprägt hat, z. B. auch Kerrs Multiversity (s. u.). Fuller meint, dass es für die Universität als Institution nicht gut ist, wenn es Academic Leadership praktisch nicht gibt, dass es nicht gut sein kann, wenn alle meinen, ein durchschnittlicher Entwicklungschef eines börsennotierten Unternehmens könnte auch eine Universität leiten.

Der Begriff des Public Intellectuals (II) sei von Akademiker*innen erfunden worden, er bezeichne das, was man bis dahin mit dem Begriff Intellektuelle belegt habe. Als Wissenschaftler*in kann man dann uneingeschränkt an der Selbstbeschreibung als Intellektuelle(r) festhalten und beschönigen, dass man normalerweise nur einen minimalen Einfluss auf öffentliche Debatten hat. Public Intellectuals sind dann die, die in Bezug auf echte Wissensproduktion parasitäre Verwertungsstrategien entwickelt haben, Gedanken aus der wissenschaftlichen Sphäre ziehen und diese vulgarisieren. Man kann getrost auf solche Leute herabblicken und sich darum bemühen, dass es mit einem selbst nicht so kommt. Wissenschaftler*innen, scheuen immer wieder kaum Mühen, ihre Wissensproduktion in einer Weise zu kodieren, dass eine Massenzugänglichkeit ausbleibt.

Verstärkt würden diese Tendenzen durch ein systematisches Auseinandertrennen von Lehre und Forschung. Wissen, wie man Wissen verbreite, sei nicht einmal Gegenstand postgradualer Wissensvermittlung. Die Trennung sei deshalb tragisch, weil man Lehre als ein Vehikel der Verbreitung auch esoterischerer Wissenselemente nutzen könnte und damit gesellschaftliche Legitimität für Wissenschaftsbemühungen gewinnen könnte, deren außerwissenschaftlicher Nutzen nicht ohne weiteres auf der Hand liegt. Wissenschaft könnte damit verengten zur kurzfristig kalkulierten Nutzenerwartungshorizonten entgehen, indem sie gerade mit den Dingen, nach denen kaum ein Praktiker fragt, Zuhörerende in der Lehre gewinnt. Regulatives Ideal einer solchen Wissensvermittlung könnte sein, dass der Nachvollzug des Wissens stets nicht so schwierig sein sollte, wie der Prozess, den die Forschenden und ihre Fachrezipienten selbst durchlaufen sind, denn dann bliebe Raum für die eigene Ideenentwicklung der Studierenden. Wissensvermittlung könnte somit zu einer Quelle des Neuen werden. Das ist – wie ich meine – eine spannende Idee.

Akademische Konformitätskultur (III) entspringe kaum persönlichen Intentionen, liege im Ergebnis aber immer wieder vor. Ganz im Gegenteil, vielen AkademikerInnen seien Anti-Etablishment-Positionen stets genehm, gerne inszenieren sich Akademiker*innen dahingehend, mit gesellschaftlichem Glanz, Politik und oberflächlichem Bling-Bling nichts zu tun haben zu wollen. Allerdings äußere sich diese Art der Distanzierung heute anders als früher. Zum Beispiel wählten viele die faktische soziale Exit Option aus der eigenen Hochschule, indem sie sich ausschließlich auf ihre disziplinären oder forschungsfeldspezifischen Netzwerke konzentrierten. Im Ergebnis, auf der Oberfläche, ist das konformitätsorientiertes (zumindest konformitätsgenerierendes) Verhalten und wird von Seiten der Organisationen oft auch noch befürwortet, denn mit Leuten, die sich ganz und gar der Forschung und nichts anderem widmen, lässt sich womöglich Exzellenz generieren. Diese Verhaltensweise führt zu einem Disengagement mit der jeweils eigenen Universität, die damit den Wissenschaftsmanagern und Higherducationprofessionellen überlassen wird. Das führt dazu, dass die Organisation sich entwissenschaftlichen und bürokratisieren und es noch mehr Gründe gibt die eben skizzierte Exit-Option zu wählen.

Auch bevor es die neoliberale Hochschulpolitik gegeben hätte, sei ein passiv-aggressives Verhältnis zur eigenen Hochschule weit verbreitet gewesen. Die Leute meinten, sie sollten bestimmen, was die Organisation macht, hätten aber ihrerseits nicht genug Interesse gehabt, den dafür notwendigen Aufwand einzubringen. Stattdessen hat man schon immer darüber geschimpft, was einem die Universität so zumute. Nun sei neoliberale Hochschulpolitik noch mehr dazu geeignet, Anreize zu stiften, sich genau so zu verhalten. D. h. die Flucht in die Forschungsnetzwerke anzutreten und den ganzen Organisationsmist von anderen erledigen zu lassen. Gerade die Fixierung auf ausschließliche Forschung wird ja ermuntert und ist genau das, was Wissenschaftler*innen aus dem Campus in die Tagungshotels treibt.

Eine studentische Bewegung (IV), im engeren Sinne von sozialer Bewegung, dass es Leute gibt, die über ein geteiltes Bewusstsein ihrer Lage verfügen, gebe es heute nicht mehr. Die zugrundeliegende Idee wäre gewesen, dass Studierende eine signifikante Rolle in der Governance der Universität innehaben. Am meisten Sinn hätte diese Idee gemacht, als Universitäten sich selbst steuernde soziale Strukturen waren, die von denjenigen, die zu einer gegebenen Zeit jeweils am Campus waren bevölkert werden. Heute streben Universitäten zwar immer noch nach organisationaler Autonomie, sie sind sozial gesehen aber weitaus entgrenzter. Insofern entsteht eine soziale Doppelgesichtigkeit wenn Universitäten Multiversities werden. Heute haben Studierende weit mehr Verbindungen zu ihren voruniversitären sozialen Identitäten, d. h. sie bringen ihre Ansprüche mit und gehen nicht mehr in einer allgemeinen Studierendenidentität mit dementsprechenden Interessenlagen auf. Insofern sind Studierendenproteste in den USA heute von der Auffassung getragen, nicht genug Gegenwert für das bezahlte Geld zu bekommen. Immer wieder heißt es, die Universität täte nicht genug gegen dieses oder jenes.

Das Klügste, was Studierendenpolitik unter diesen Umständen machen können, wäre, übergeordnete Aspekte sozialer Gerechtigkeit mit persönlich ökonomischen Interessen zu verknüpfen. Das sei gar nicht so weit weg von den Humboldtschen Gedanken, weil auch Humboldt sah seine Universitätskonzeption als Schlüssel für eine nach- und aufholende Modernisierung Deutschlands. Wer damals deutsche Universitäten besuchte, wollte die Möglichkeit zum intellektuellen und kulturellen Niveau französischer oder englischer Zeitgenossen aufzuschließen. Zudem ging es den damals studierenden (Männern) darum, in einen Hochqualifiziertenarbeitsmarkt zu gelangen, der Leistung und Wissen höher bewertete, als Abstammung und Fertigkeiten wie fechten und reiten. Heute geht es sicherlich um andere Fragen, so zum Beispiel darum, welche Konsequenzen Massenintellektualität für die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen hat.