Alexander Bogner hat mit Epistemisierung des Politischen[1] einen Essay vorgelegt, der der Frage nachgeht, was aktuelle im Verhältnis von Wissenschaft und Politik passiert, der programmatische Untertitel nimmt einen Teil der Antwort (den Teil der Lesende verunsichern könnte) bereits vorweg. Der Untertitel laute „wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet“. Ganz gerafft zusammengefasst, skizziert Bogner einen Triumph des Wissens und was es an Gegenreaktionen gegen diesen Triumph gibt. Er knüpft dabei an den Gedanken an, dass Epistemisierung als eine Kränkung der Demokratie erlebt werden kann, eine Kränkung, die daraus resultiert, dass politische Räume, Räume des Entscheidens, durch Wissenschaft enger zu werden scheinen, dass Wissenschaft nicht mehr so freihändig arbiträr ignorierbar ist, wie das früher mal gewesen ist. In Wissenskonflikten drohe eine weitere Abstraktion von der Werteebene. Wertstandpunkte würden nicht mehr explizit gemacht, weil die Suggestion obwalte, politische Konflikte würden über Wissen ausgetragen. Es sehe in diesem Zusammenhang so aus, als führe ein direkter Weg von der wissenschaftsgestützten Evidenz zur richtigen Politik, wie im Follow the Science-Slogan der Futurebewegungen.
Welche Probleme solch ein Wissensglaube macht, zeigt Bogner am Beispiel der Coronakrise. Ohne Wissen gäbe es das Virus gar nicht, vermutlich noch nicht einmal die Bedrohung, man sähe nur Kranke, eine dunkle Heimsuchung, dafür weniger Erkältete und kaum Grippeopfer. Das Primat der virologischen Wissenschaft unterstützte in der Frühphase der Krise eine Politik der Alternativlosigkeit, einen Dissens in Bezug auf die Handlungsziele der Politik gab es nicht. Auch keinen politischen Dissens in Bezug darauf, womit man es zu tun habe. Dissens gab es allenfalls in Bezug darauf, wie Lasten zu verteilen seien, aber auch den erst später. Die ersten Kontroversen waren sich um Verhältnismäßigkeiten drehende, auch eine eigentlich ökonomisch motivierte Kritik hätte gesundheitspolitisch argumentiert sagt Bogner. Dass Politik ihre Autonomie auf Wertedissense grundierte, geriet vorübergehend tatsächlich aus dem Fokus, stattdessen entwickelten sich mit einem Schlag nahezu alle zu Expert*innnen in Sachen Verhältmismäßigkeitslehre. Wie auch auch im Klimastreit erhielt der Expertenkonsens eine zentrale Bedeutung. Deshalb war es für eine Kritik der Klimapolitik so wichtig zu behaupten, dass es keinen gebe und wurde es für Beobachter*innen und Journalist*innen so wichtig, über einen Dissens der Virolog*innen zu schreiben. Das war zum Ende des April 2020, dass in der TAZ leider auch und hier und da sonst von einer Battle der Virologen die Rede war. Die Klimaforschung hat auf diese Entwicklung mit der Etablierung eines Zweiges Empirischer Konsensforschung reagiert, für die Virologie fehlten natürlich sowohl Ressourcen als auch Zeit, entsprechend zu reagieren.
In solchen Auseinandersetzungen entstandene Epistemische Konsenspolitik sei von der Überzeugung getragen, dass wissenschaftliches Wissen die einzige Basis rationaler Politik ist, sagt Bogner. Die Soziologie habe sich einem solchen Politikverständnis bereits einmal mit der sogenannten Technokratiekritik entgegengestellt. Das, was viele heute feiern, nennt Bogner Expertokratie in Grün, löse aber seiner Meinung nach nie das Grundproblem politischen Streits. Die Postdemokratiedebatte sei eine Folge der beschriebenen Entleerung des Politischen, sagt Bogner dann, sie gelte der Sorge vor einem schwindenden Interesse an politischer Beteiligung. In einer artverwandten Postpolitikdebatte gelte die Sorge dem Ausbleiben von Aushandlung, bei der es angeblich gar nicht mehr um echte Alternativen gehe. Die nachhaltigste Kritik der liberalen Demokratie hingegen entstamme dem orthodoxen Marxismus und sieht das Kernproblem der liberalen Demokratie in ihrer normativen Anspruchslosigkeit, mehr als eine formale Demokratie sei sie aus dieser Perspektive nicht. Aber auch außerhalb des leninistischen Marxismus hat es solche Haltungen gegeben, manifestiert in Äußerungen wie „wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“.
In der Wissensgesellschaft dann werde Demokratie zu einem epistemischen Problem, fährt Bogner fort. Politische Akteure erscheinen als inkompetent, unbedarft, es drängt sich die Frage auf, wie lange man sich solche Unbedarftheiten noch leisten könne und auch wieviel Inkompetenz auf Seiten der Wählenden die Demokratie verkrafte. Das sind – kann man kritisch einwenden – nicht im Mindestens neue Fragen, vielmehr alte, die von Anfang an an der Wiege der Demokratie mitstanden.[3] Eins der großen Probleme der Gründerväter der Demokratie war, wie man den Pöbel von den Wahlurnen fernhält, verhindert, dass Unwissende zu viel Einfluss auf die Geschicke der Demokratie bekamen. Bogner nennt das nun epistemische Demokratiekritik, und sieht darin eine Erbin der alten aristokratischen Demokratiekritik, ihr zentrales Problem sei, dass sie die der wissenschaftlichen Sphäre entstammende Wahr-Falsch-Unterscheidung in die Politik hineintrage.
Einen anderen Modus der Kritik findet er bei Hellmuth Wilke hingegen stellte fest,[4] dass Politik ja gar nicht über die überlegenen Geltungsansprüche verfüge, die sie für sich beanspruche, deshalb bediene sie sich einer kaum mehr überschaubaren Zahl von Beratungsinstanzen. Wilke will die deshalb entstandenen Strukturen transparent machen, es soll ans Licht, wer da wen berät und, was es zu managen gilt, sollte denen überlassen werden, die reale Expertise habe. Politik sei zu entlasten, damit sie sich auf das Bearbeiten von Wertefragen konzentrieren könne. Dieses Modell hätte allerdings zur Voraussetzung, dass es einen geteilten Wertekonsens gibt, nur dann ließe sich bestimmen, welche Fragen den Expertiseträger*innen überantwortet werden können. Die Idee, es sei konsensual möglich, zu entscheiden, was in die Politik und was in die Expert*innengremien gehöre, ist illusorisch. In Willkes Modell manifestiere sich ein unumstößlicher Glaube in die Sachzwangwirkung wissenschaftlichen Wissens, meint Bogner dann auch, aber es sei eben eine politische Entscheidung, ob ein Thema rein fachlich oder nicht doch politisch zu entscheiden sei.
Demokratie ist, wie es scheint, unhintergehbar auf eine relativistische Weltanschauung angewiesen, gegründet ist dieser Relativismus auf der Idee, dass der offene Wettstreit der Weltanschauungen letztlich dazu führt, dass sich die Chance auf Durchsetzung des Besseren realisiert. Politik wäre damit ein Teilsystem, dass man daraus, dass man nicht genau wissen kann, was das Richtige ist die Möglichkeit zum Besseren schöpft. Eben weil man es nicht wissen kann, muss man im Prinzip auch die andere Meinung für eine möglicherweise richtige halten, damit geht eine demokratienotwendige Skepsis gegenüber absolut daherkommenden Wahrheitsansprüchen einher. Und für Außenstehende sehen ja wissenschaftliche Geltungs- oder gar Wahrheitsansprüche genau danach aus.
Die liberalistische Vorstellung, dass Wandel eine zentrale Voraussetzung individueller Freiheit ist, baue in letzter Instanz auf der Vorstellung auf, dass Dissens produktiv ist, sagt Bogner. Produktiver Dissens hat aber wiederum zur Voraussetzung, dass man in der selben Wirklichkeit lebt, deshalb kommt der Idee der objektiven Wahrheit eine Schlüsselbedeutung für die Demokratie zu. Wenn den anderen gleichgültig ist, worin diese besteht oder bereits die Idee, es könnte sie geben keine Rolle spielt, wird es sehr schwer zu denken, die anderen könnten auch richtig liegen. Die Idee objektiver Wahrheit wird somit mit einem funktionalistischen Argument versehen, die Wahrheitsidee wiederum treibt die Konflikte an, die für das Fortsbestehen einer offenen Gesellschaft existenziell sind. Streit in der Gesellschaft ist somit kein Problem im Sinne einer Abweichung des gesellschaftlichen Seins vom gesellschaftlichen Sollen, ganz im Gegenteil. Ohne Streit würde eine Gesellschaft erstarren, verschwünde die Freiheit, eine Gesellschaft, die gleichgültig in Bezug darauf wäre, was die Wahrheit ist, hätte wenig Grund Dynamik zu entfalten. Man könnte zwar darüber streiten, ob ein derartiges Ende der Geschichte der ewige Frieden wäre, man kann aber andererseits mit gutem Recht annehmen, dass das kein erstrebenswerter Zustand wäre und unvereinbar mit Vorstellung einer modernen Gesellschaft wäre diese Vorstellung auch.
So wurde Offenheit, Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche wenigstens für eine Handvoll Jahre zu einer Art stets genehmen Allgegenwart. Für wenige Jahre war dieser Zustand zumindest in Deutschland und Österreich mit sozialdemokratischen Kanzlerschaften Kreiskys und Brandts verbunden. Kurioserweise zu einer Zeit, als global gesehen Demokratie so wenig verbreitet war wie seither lange nicht.[5] Als Lebensbereich zählte dabei auch die Wissenschaft, die als eigentlich nicht demokratisches Teilsystem der Gesellschaft einem Demokratisierungspostulat unterfiel. Dieses Postulat äußerte sich einerseits in institutionellen Demokratisierungsbestrebungen der Universität, fand in der formidablen Bundesassistentenkonferenz eine Art Verkörperung, einer Struktur, aus der dann auch einige Reformrektoren deutscher Universitäten (insbesondere Wittkowsky und Kreibich in Berlin) hervorgingen und dann aber auch epistemisch. Technokratie als Herrschaftsform, als Idee der Politik das Politische auszutreiben war diskreditiert, Expertentum (damals noch weitestgehend ohne ein anzuhängenden –innen adressierbar) wurde kritisch beäugt. Paul Feyerabend beschrieb die wissenschaftliche Methode als eine Art europäische Elitenvolkssitte und beharrte darauf, darauf, dass Methoden eine situative Komponente haben. Wissenschaft wollte Feyerabend politisieren, für das Wissenschaft-Politik-Verhältnis wollte er offenbar verloren gewähnte Arbitrarität wiedergewinnen. Die Leute sollten wissen können, was sie wollten. Bogner nennt das epistemischen Populismus. Legitimer Bewertungsmaßstab sei einzig und allein das ideologische Kalkül der Leute, ob nun religiös katholisch, esoterisch oder sonstwie motiviert. Das klang gut in einer Zeit, als es galt, konservativem, ja hier und da reaktionärem Expertentum die Stirnen zu bieten, hat aber in einer Zeit, in der schwurbelige Gegenwissensansprüche durch die Querdenkerreihen wabern, einen weit unschöneren Klang. Fundamentalrelativismus in Bezug auf wissenschaftlich begründete Geltungsansprüche ist noch heute in Grünen Diskursen über Homöopathie oder Gentechnik[6] anzutreffen, wenn zum Beispiel eine Renate Künast zur Homöopathie sagt es geben „so ne und so ne Wissenschaft“. In diesen Jahren ein dreiviertel Jahrzehnt vor der Gründung der Grünen Partei hatte diese Art von Haltungen ihre Wurzeln.
Bogners Demokratiekonzept ist insofern traditionell links, als er meint Demokratie habe stets gegen Widerstände erkämpft werden müssen, die Idee, sie könne zugleich auch ein Elitenkonzept gewesen sein, findet sich in seinem Argumentationsaufbau nicht. Rhetorisch fragt Bogner dann, ob wir heute am Ende des Weges in der vollends realisierten Demokratie angekommen sind und wie diese aussähe, reicht es vielleicht immer mehr Menschen wählen zu lassen? Latour jedenfalls sähe das anders, meine, man müsse auch den nichtmenschlichen Dinge Stimme und Repräsentation geben. Damit sei die klassische Trennung von Werten als Sphäre der Menschen und Tatsachen als Emanation der Sphäre der Dinge aufgehoben. Die freiheitseinschränkende Wirkung der dingbezogenen Fakten wolle Latour, meint Bogner, überwinden, indem er die Welt der Dinge dynamisiert, ihre Herstellungsgeschichte offenlegt und darüber spricht. Dann würde die Kontingenz der Dinge offensichtlich werden und sie verlören ihre Macht über die Menschen.
Latours Plädoyer für eine voraussetzungslose Öffnung geht davon aus, dass die Macht der Fakten auf Exklusion hinausläuft, Teilhabe und Mitsprache einhegt. Sein Lob des radikalen Dissenses stelle darauf ab, dass Widerspruch zu Faktenwissen aus der richtigen Ecke kommt und mit emanzipativem Anspruch versehen ist, so dass man ohne Schaden die Wissensverhältnisse vergesellschaften könnte. Diese partizipativ intendierte Neuzusammensetzung des Kollektivs soll eine nachholende Politisierung des Dinglichen schaffen, jene die bislang keine berücksichtigenswerte Wesenheiten waren, sollen nun welche werden. Dass Inklusion und Exklusion von Wesenheiten keine Einbahnstraßen sind und, dass es passieren könnte, dass ein Kollektiv der Wesenheiten auch bestimmte nicht unwesentliche Wesenheiten ausschließt ist nicht so sein Problem, auch ohne Wahrheitsteferenz würden Ufologie oder Flatearthlehren nicht allzu viel Resonanz finden, meint Latour.
Warum das so sein soll, bleibe Latour allerdings eine Antwort schuldig. Fakten entstehen aber eben nicht nur dann, wenn man aufhört (vermeintliche) Sachverhalte in Frage zu stellen oder beginnen zu verschwinden, wenn man damit anfängt, manchmal sind sie einfach da und ihre Verlässlichkeit kann Handeln auch ermöglichen. Die Übertragung der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des demokratischen Projektes auf den epistemischen Bereich hätte eben auch den Preis, dass man nie wirklich wissen könnte, was man machen könnte, wenn man es machen könnte. Die Standhaftigkeit eines Brückenbogens oder die Durchführbarkeit eines Laborexperiments kann nicht Gegenstand permanenter gesellschaftlicher Aushandlung sein, die Normen, welche die Standhaftigkeitszuschreibung betreffen oder wie man ein Labortagebuch führt hingegen schon. (73)
Wie auch immer, wenn man wissenschaftliche Geltungsansprüche für politische Gebote hält, dann wird das Erheben eines solchen zu einem Akt wider die Demokratie, weil man dem Wissen alles zutraut, kommt es als Quelle allen Übels in Betracht. Der Experte gebe insofern ein Feindbild in der Wissensgesellschaft ab, ein Feindbild, das rechts wie links gleichermaßen gepflegt werde. Vielleicht ist der bei Politiker*innen irritierend häufig bemühte Satz „das ist mir zu hoch“ Ausdruck solch einer Haltung. Dann aber meint Bogner, ein wenig überraschend, STS (Science and Technology Studies) verkörperten genau diese Art expertenkritischer Haltung. In Laborstudien manifestiere er sich, der Erfolg der STS begründe sich darin, dass sie Überreste einer überkommenen Kapitalismuskritik auf das Epistemische übertragen hätten. Die Suche, ja Sucht der Soziologie nach dem revolutionären Subjekt komme damit zum Ausdruck spinnt Bogner die These steil fort und schließt daran eher allgemeine Überlegungen zum Spannungsverhätltnis von Politik und Wissenschaft an. An diesen allgemeinen Überlegungen ist nichts falsch.
Bogner wendet sich dann etwas überraschend Post-Truth-Lehren zu. Er meint damit eine Abkehr von der Idee, dass besseres Wissen möglich sein kann. In jeder Form von Wissenskritik schlummert insofern ein emanzipatives Potential, selbst im Kreationismus. Bogner findet diese Haltung beim späten Steve Fuller. Fuller, auf den Schultern Kuhns stehend fordere eine Überwindung des wissenschaftlichen Paradigmas ein.[7] Ein emanzipativer Umgang mit Wissenschaft bestehe Fuller zufolge darin, selektiv nach Maßgabe eigener Interessen auf Erkenntnisangebote der Wissenschaft zurückzugreifen (also in dem, was Politik seit jeher macht, allerdings will Fuller dieses arbiträre Zurückgreifen auf passende Wissenschaft nicht den Mächtigen vorbehalten sehen, sondern für Jederfrau und – mann möglich machen). Bogner sieht das Hauptproblem an Fullers Vorschlag darin, dass Fuller Wissenschaftsgeschichte als Kampf regelkonformer strukturkonservativer Experten mit nonkonformistischen Gegenexperten lese, weshalb er antirationalistische Strömungen zu Widerstandbewegungen verkläre. Fullers Weigerung, rivalisierende Wissensansprüche zu bewerten, sei aber letztlich nichts anderes als eine „Art epistemischer Identitätspolitik von links“.
Experten und Intellektuelle repräsentierten in der modernen Gesellschaft Exponenten besseren Wissens, fährt Bogner fort. Im ursprünglichen Wortsinne Saint Simons waren Intellektuelle nicht die, die wir heute so nennen würden, sondern Vertreter objektiven, heute würden wir vermutlich sagen, transformativen Wissens. Im 19. Jahrhundert waren dies nicht Philosophen, Theologen oder Literaten, sondern Naturwissenschaftler und Ingenieure, denn letztere stellten das Wissen bereit, mit dem die Welt umgebaut wurde. Die Verbindung mit Kritik bekam der Intellektuellenbegriff erst in Verbindung mit der Dreyfus-Affäre, als es darum ging, das Wirken eines antisemitischen Männernetzwerkes in der französischen Armee als das zu benennen, was es war. Intellektuelle waren dabei diejenigen, die im Nahmen universalistischer Prinzipen des Denkens bereit waren, vermeintliche nationale Interessen hintanzustellen. Ihren Gegnern den Antidreyfusards galten sie als sachlichfachlich inkompetent. Die Stunde solch prinzipialistischer Intellektueller schlug immer dann, wenn Experten mit ihrer feldspezifischen Kompetenz nicht mehr weiterwussten, kurz, wenn eine etablierte Wissensordnung sich in einer Krise befand.
Trotzdem oder gerade deshalb hätten sie es heute nicht leicht. Lewis Coser sah bereits 1965 universitäre Intellektuelle als eine bedrohte Spezies an[8], Zwang zum akademischen Unternehmertum, Zwänge der Selbstverwaltung und Metrifizierung der Wissenschaft ersticke sie, meinte er vor 56 Jahren. Das ist seither nicht viel besser geworden. In der Universität würden Intellektuelle durch jargonbesessene Karrieristen ausgetauscht sagt Bogner. Die Universität wäre damit nur für einen recht überschaubaren Zeitraum zum Zufluchtsort für Intellektuelle gewesen. Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts sind Intellektuelle im Saint-Simonschen draußen gewesen und auch für diejenigen die Zolas Kriterien entsprachen war die Zeit an den Universitäten demnach nicht lang.
Die Legitimität der notwendigerweise inkompetenten Intellektuellen hängt von der Allgemeinverbindlichkeit der Werte ab, die sie vertreten, im Umkehrschluss heißt das, dass je fragmentierter eine Gesellschaft ist, je konfliktreicher ihrer Wertekanon wird desto größer wird der Detaillierungszwang für Intellektuelle und, könnte man anfügen, desto mehr schrumpft ihre gesellschaftliche Bedeutung. Sie gelten dann als fachlich wenig kompetent, nicht faktensicher, im schlimmsten Fall als vergeistigt, verkopft gar verquast, im schlimmsten Falle schwurbelig.
Und werden damit in die Nähe derer gerückt, die das herrschende, als richtige geltende Wissen in Zweifel ziehen. Bogner schlägt für diese Gruppen den Begriff Wissens- oder Konsensleugner vor. Auch sie berufen sich oft auf renommierte Wissenschaftler, bauen also auf die gleiche Art wissenschaftlicher Reputation wie alle anderen, nur, dass sie ihre eigenen Expertenautoritäten haben. Auch deshalb spielen Professor*innen und Doktortitel in verschwörungsschwurbeligen Kreisen keine minder bedeutsame Rolle.[9] Leugner beuten aus, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Erfahrung zwiespältig ist. Wissenschaftliche Diskurse sind voll von Dingen, die man nicht erfahren kann, wir sehen die Sonne täglich untergehen und müssen uns stets (metaphorisch gesagt) vor Augen führen, dass es die Erde unter unseren Füßen ist, die sich von der Sonne wegdreht. Fortschreitende Entzauberung der Welt steht in einem dialektischen Verhältnis mit ihrer Wiederverrätselung durch Komplexitätssteigerung. Unter dem ordnenden analysierenden Blick der Wissenschaft werden die Dinge abstrakt, opak und kontraintuitiv sagt Bogner.
Insofern ist die Leugnerbewegung für Bogner auch eine Enträtselungsinitiative von unten es gibt da eine Parteinahme für das Konkrete, Anschauliche, für die unmittelbare Erfahrung. Es geht gegen die Zwänge wissenschaftlich angeleiteter Weltwahrnehmung. Man kann Welt nicht mehr wahrnehmen, wie man will, das Weltbild nicht mehr frei wählen, zumindest nicht ohne Schaden in Hinblick auf Ansehen und Wirkungsvermögen zu nehmen. Das – wie gesagt – kann auf Kränkungsergebnisse hinauslaufen, deren Ursachen für die Betreffenden in der Wissenschaft zu liegen scheinen. Wenn dann ein Modell wie das Kopernikanische erstmal akzeptiert ist, kann man nicht mehr ohne negative Konsequenzen behaupten, die Sonne drehe sich um die Erde.
Das gilt in vielerlei Zusammenhängen, man muss etwas wissen und wer das nicht will oder kann, es nicht der Mühe wert befindet, sich wissenschaftliches Wissen anzueignen, für den werde es eng, sagt Bogner. Ein Ausweg scheine darin zu bestehen, gegen die Faktenwelt zu opponieren. Der Anreiz, sich alternativer Fakten zu behelfen, wachse in dem Maße indem Politik an Fakten orientiert sein soll oder muss. Bereits Ahrendt habe darauf verwiesen, welch zwiespältiges Verhältnis Politik zur Wahrheit habe, einerseits schätze sie Wahrheit als Legitimationsressource, andererseits fürchte sie sie, weil sie vom Standpunkt der Politik aus gesehen einen despotischen Charakter habe. Auch die Politik der Leugner überwinde diese Ambivalenz nicht, auch sie glauben fest an die Autorität von Wissen, hätten nur gerne anderes Wissen in dieser Rolle.
Bogner meint, auch faktenleugnend könne man verantwortungsvolle Politik betreiben (genauer, von der Faktenleugnung führt nicht notwendigerweise eine direkte Verbindung zu schlechter Politik, als Beispiel führt er dafür das republikanisch regiert Texas an, dort gebe es trotzdem Erneuerbare Energie in erheblichem Umfang).[10] Politischer Konflikt wandele sich im Rahmen einer Epistemisierung des Politischen in ein Wettrennen um bessere, anerkanntere, geglaubtere Expertise, es komme insofern auch zu einer Epistemisierung der Gesellschaftskritik, revolutionärer Eifer der Soziologie verlege sich, meint Bogner, auf eine Kritik der Wissensverhältnisse. Gegen die Soziologie fordert Bogner die Möglichkeit eines gemeinsamen Referenzrahmens ein, hält sich allerdings zu wenig mit der Frage auf, wie dieser ermöglicht werden soll und eine Auseinandersetzung damit, dass es nicht die Soziologie oder gar die STS in toto sind, die gegen eine Wahrheitsanknüpfung von Wissen stehen, fehlt bei Bogner auch. Technik- und wissenschaftssoziologische Konzepte wie Materialität oder Widerstädigkeit der Dinge erörtert er nicht.
Epistemokratie sei nicht die Herrschaft der Experten, sondern die eines Prinzips der Wissensförmigkeit, das meint den festen Glauben daran, dass die Krisen, Konflikte und Streitfragen erst dann richtig begriffen werden, wenn es im Kern um Wissensdinge nicht um Wertaspekte geht.
[1] Alexander Bogner (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet; Ditzingen: Reclam.
[2] Vgl. TAZ vom 11.04.2020: Diskussion um Heinsberg Studie: Battle der Virologen.
[3] Vgl. Philip Manow (2020):(Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Suhrkamp. Im Blog hier erörtert.
[4] Vgl. Hellmuth Willke (2016): Dezentrierte Demokratie. Prolegomena zur Revision politischer Steuerung, Berlin.
[5] Die Jahre 1974/75 lassen sich ohne Schwierigkeiten als Peak Non Democracy beschreiben. Weder Spanien noch Griechenland waren demokratisch, Portugal gerade auf dem Weg dahin, Ost- und Ostmitteleuropa, der Balkan selbstverständlich auch nicht in Lateinamerika war Demokratie verschwunden in Brasilien und Chile in den USA regierte Nixon und erschütterte der Watergate-Skandal die Demokratie.
[6] Grüne und Gene, zum Homöopathieproblem und auch hier.
[7] Die Verlagsseite zu Fullers Buch steht hier.
[8] Lewis Coser: Men of Ideas. A Sociologist´s View; New York 1965.
[9] Vgl. Carsten v. Wissel (2020): Die Wiederkehr des Verdrängten. Vom Sinn der Verschwörungstheorien; Forum Wissenschaft 4/2020.
[10] Selbstverständlich hat Bogner seinen Text vor dem Spätwinter 2020/21 geschrieben , in dem eben jene Windkraftanlagen in der eingebrochenen Kälte vom Netz gingen und im Ergebnis Zehntausende ohne Strom zuhause sitzen ließen. So verantwortungsvoll kann die Texanische Energiepolitik doch nicht gewesen sein.