Politik und Policey, eine Kurzskizze. Ein Versuch der Repolitisierung von bürokratieumschlungener Wissenschaftspolitik in Anlehnung an Jaques Rancières Politik-Polizei-Unterscheidung

Die aus der Frühen Neuzeit stammende Unterscheidung von Politik und Policey wäre heute fast vergessen, wenn es nicht ihre Reaktualisierung durch Michel Foucault und Jaques Rancière gäbe. Insbesondere im Unvernehmen[1], dem wichtigsten Text Rancières, hat sie einen prominenten Platz, ja eine Schlüssel- und Ausgangsfunktion. Am Anfang der Überlegungen wird da zwischen Politik und Polizei unterschieden und ein Großteil des Politikbetriebes der Polizei zugerechnet, nämlich alles, was nicht auf die Hervorbringung von Gleichheit ausgerichtet ist. Ich werde im Folgenden diese Unterscheidung übernehmen, auch die Methodik, da sehr radikal eine Grenze zu ziehen und beileibe nicht alles, was sich Politik nennt, auch so zu nennen, werde sie allerdings anders als Rancière beziehen. Es bleibt die Absicht, den Politikbegriff zu befreien von seiner Verankerung im Arbiträren, dessen Ergebnisse, Motive und Eingangsimpulse man gar nicht so genau kennen kann, der dabei aber dennoch hochgradig reguliert und von Auschließungspraxen umstellt bleibt[2].

Und von Rancière werde ich das Unvernehmen übernehmen, das am Anfang des Politischen steht. Unvernehmen als das Gegenteil von Einvernehmen, das entsteht, weil unterschiedliche Leute unter gleich Benanntem sehr Unterschiedliches verstehen können. Unvernehmen, das auch nicht weggeht, sich nicht in der Konvergenz von Expertenmeinungen aufheben wird, weil philosophische Vorstellung in Hinblick darauf, was gutes Leben ist, dieser Art ansonsten in den Wissenschaften üblichen Konvergenz nicht unterfallen. Insofern sind diese Fragen auch nicht abschließend klärbar und werden immer die Grundlage politischen Streits sein.[3]

Nicht Gegenstand dieser Art immerwährenden Streits ist hingegen nach Rancière Polizei, die nicht wie heute die einstmals niedere Polizei, die für Ordnung sorgt betrifft, sondern all die Fragen politischer, besser gesellschaftlicher Ordnung, die das Leben der Menschen regulieren. Der alte Policeybegriff umfasste auch Fragen, wie man sich als Angehöriger welchen Standes kleidete, zu kleiden hatte und inwiefern Herrschaft, in ihrer Erscheinungsform von Obrigkeit sich mit derlei Fragen zu befassen hatte, kurz die ganze mögliche Bandbreite sogenannter obrigkeitlicher Reglementierung. Der Unterschied zwischen Herrschaft und Politik ist, bei Rancière (an Platon anknüpfend) die Demokratie, die im Rahmen ihres attischen Beispiels eine Teilhabe derer vorsah, die nichts außer ihrer Freiheit zum Staatswesen beizutragen hatten. Das war, wie wir rückblickend wissen, im 5. Jahrhundert vor Christi alles andere als ein Normalfall. Insofern ist einer der interessantesten und stärksten Aspekte von Rancières politischer Philosophie die feste Verbindung von Politik und Demokratie. In Abwesenheit von Demokratie ist keine Politik, sondern Herrschaft, wie von einigen griechischen Poleis abgesehen im 5. vorchristlichen Jahrhundert abgesehen fast überall.

Aber anders als Rancière möchte ich die Unterscheidung nicht auf Gleichheit, sondern auf gesellschaftliches Fortbestehen als Demokratie bezogen wissen. D. h. aus meiner Sicht kann nur dasjenige Handeln den Politikbegriff erfolgreich für sich beanspruchen, das darauf ausgerichtet ist, dass eine demokratische Gesellschaft fortbestehen kann. Jedwede Politik, die das nicht berücksichtigt, sich nicht um Fortbestandsfragen oder Demokratiefragen kümmert, fiele demnach unter das Verdikt bloße Polizei oder zumindest nur scheinbar Politik zu sein. Auch Politik, die nichts kennt als die Eigenlogik des jeweils eigenen Politikfeldes oder Positionierungsprobleme politischer Akteure im politischen Feld, fiele darunter.

Hiervon ausgehend lässt sich jetzt (wie im Dezember angekündigt) fragen, was das mit Wissenschaftspolitik zu tun hat und was ein Unterschied von Politik und Polizei im Feld der Wissenschaften sein könnte. Wissenschaftspolitik ist ein vergleichsweise junges Politikfeld, sie ist erst in den hundert Jahren zwischen 1850 und 1950 entstanden und damit eines der neuangekommenen Politikfelder in der Welt des Politischen. Ihre Anfänge kann man im Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts suchen, als im Umfeld konkreter Wissenschaftlernetzwerke Macht und Bezüge zu industriellen und gesellschaftlichen Praxen entstanden, Timothy Lenoir hat diese Netzwerke in seiner Politik im Tempel der Wissenschaft beschrieben[4]. In etwa zur Reichsgründung 1871 waren diese Netzwerke so weit, dass sich tatsächlich politische Strukturen um sie herum etablierten. Vom Brocke und vom Bruch haben diese Strukturen dann beschrieben.

Aber der globale Take Off der Wissenschaftspolitik erfolgte dann erst im Zweiten Weltkrieg, als die Frage von Sieg oder Niederlage mit konkreten Vorhaben der Wissensproduktion verknüpft war. Wer als erstes in die Lage kommen würde, nukleare Waffen aufzubieten, galt damals als möglicher Sieger in einem weltumspannenden Krieg. Allein die Möglichkeit, dass NS-Deutschland sich in Verfügung solch einer Waffe bringen könnte, hatte jenseits des Atlantiks sehr starke politische Energien hervorgebracht. Und danach war Wissenschafts- und Bildungspolitik betreffend nichts mehr so wie vorher. Wissenschaftspolitik kam aus ihrer Nische am Rande des Politikbetriebes heraus und wurde zu einem zentralen Spielfeld zwischenstaatlicher Konkurrenzen.

Allerdings war diese Art staatenkonkurrenzgetriebener Politik weder demokratisch noch nachhaltigkeitsorientiert. Und sie war offen für nichtdemokratische Tendenzen, wie die Technokratiebewegung der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte. Die Idee, politisches durch technisches Entscheiden ersetzen zu können, entfaltete für viele Jahrzehnte um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine erhebliche Anziehungskraft. Insofern erschien es in den 1970er Jahren naheliegend Wissenschaftspolitik insofern demokratisch werden zu lassen, indem man die Organisationen der Wissenschaft vermittels ihrer Gremien demokratisierte oder zumindest doch demokratischer werden ließ. Diese Bemühungen scheiterten in Deutschland jedoch schnell, schon 1973, weil ein der Wissenschaft personell sehr nahestehendes Bundesverfassungsgericht der Auffassung war, dass Entscheidungen von Gremien universitärer Organisationen von Professor*innen dominiert sein müssen.

Seither hat Wissenschaftspolitik keinen Weg gefunden, demokratisch zu werden, Teile von ihr laborieren an dem nunmehr fast 50 Jahre alten Problem herum, wie sie demokratischer werden kann. Angesichts dessen, dass direkte Interaktionsformate zwischen Politik und Wissenschaft immer noch fehlen und das Gespräch zwischen beiden Feldern immer noch zu großen Teilen über das Budgetrecht des parlamentarisch repräsentierten Souveräns erfolgt, hat sich neben der inneren Nichtdemokratie des Wissenschaftsbetrieb ein weiteres Demokratieproblem dazugesellt, indem wir nicht wissen, wie wissenschaftspolitische Agenda- und Schwerpunktsetzungen zustande kommen. Jedoch wäre gerade Letzteres zu wissen, umso wichtiger, je weiter eine Verwissenschaftlichung von immer mehr gesellschaftlichen Feldern voranschreitet.

Was derzeit unter dem Namen Wissenschaftspolitik stattfindet, ist im Wesentlichen eine Polizei organisationaler Körper, um in der Diktion Rancières zu bleiben. Politik koordiniert, wie diese sich sortieren, wie sie miteinander konkurrieren und in welchem Hierarchieverhältnis sie zueinander stehen. Wie Wissenschaftspolitik im o. g. Sinne demokratisch werden kann, ist bis auf weiteres strittig und auch gar nicht im Interesse einer eher nicht linken Hälfte des politischen Spektrums. Das Thema taugt aber für eine permanente Beschäftigung des Feldes mit sich selbst. Insofern, und weil man nicht weiß, wie an die Prozesse der Wissensproduktion von Seiten der Politik angeschlossen werden kann, ist Wissenschaftspolitik links der Mitte allzu oft zu quasigewerkschaftlicher Organisationsdemokratisierungspolitik geworden. Es wird versucht, Hierarchien abzubauen (z. B., indem man vormaligen Fachhochschulen Promotionsrechte einräumt) und es wird immer noch an Gremien wissenschaftlicher Selbstorganisation herumdemokratisiert.[5] Davon abgesehen versteht sich Wissenschaftspolitik dahingehend, Wünsche anderer Politikfelder an die Wissenschaft zu adressieren.

[1] Vgl. Jaques Rancière (2001): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp

[2] Vgl. Robin Celicates (2004): Politik und Polizei. Jacques Rancière, zur Logik von Entpolitisierungsprozessen; in: Texte zur Kunst, No. 55; url: https://www.textezurkunst.de/de/55/politik-und-polizei/; letzter Zugriff am 17.01.2024.

[3] Vgl. Frieder Vogelmann (2022): Die Wirksamkeit des Wissens. Eine politische Epistemologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp

[4] Vgl. Timothy Lenoir (1992): Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M.: Campus.

[5] Vgl. Uwe Schneidewind/Carsten von Wissel (2015): Warum Wissenschaftspolitik neue Formen der Demokratisierung braucht; in Forum Wissenschaft No. 4/2015; url: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/6123; letzter Zugriff am 17.01.2024.