Wissenschaft und ihre Organisation. Ein Twitterthread

Vor etwas mehr als zwei Wochen habe ich vom Sofa einen neunteiligen Twitterthread abgesetzt, in dem ich ein bisschen über problematische Verschränkungen organisationaler und wissenschaftlicher Belange herumspekulierte. Den Thread gebe ich in Kursivschrift wieder, in den Passagen dazwischen gehe ich auf Reaktionen und Erwiderungen ein, sofern ich sie interessant fand.

Auf einer spielerischen Ebene fand ich interessant, wie ein Twitterthread wie ein Fischernetz für Gedanken fungieren kann. Man gibt ein bisschen was raus und bekommt dafür Widerspruch und Zustimmung. Interessant dabei ist, welchen Widerspruch und wie der dabei motiviert ist.

 

Im Wissenschaftssystem kollidieren epistemische und organisationale Ansprüche. Seine Organisationen sind, was ihren Erfolg betrifft, extrem abhängig von personalem Wissen, über das sie nicht verfügen können. Deshalb sind Organisationen des Wissenschaftssystems schwache Organisationen (1/x)

Wissenschaftliche (epistemische) und organisationale Ansprüche kollidieren nicht notwendigerweise, aber sie treffen aufeinander, können, aber müssen sich nicht miteinander verzahnen, verhaken ist ebenso möglich. Organisationen des Wissenschaftssystems sind deshalb in einer prekären Abhängigkeit vom Wissen ihrer Mitglieder, das sie als Organisationen gar nicht bewerten und schon gar nicht aneignen können. Wenn diese Mitglieder die Organisation verlassen, geht mit ihnen das Wissen es bleiben nur formale Wissenshülsen. Aus diesem Grund gelten Hochschulen und andere Expert*innenorganisationen aus organisationstheoretischer Sicht als schwache Organisationen, die über keine eigenen organisationalen Mittel verfügen qualitative Bewertungen vorzunehmen.

 

Und deshalb ist aus Sicht der Organisationen des WSS Innovation stark mit Personalaustausch verbunden (2/x)

Die hohe Bedeutung des Personalaustausches ergibt sich aus der o. g. Schwäche der Expert*innenorganisationen, denen es in der Regel schwerfällt, eigene, organisational bestimmte Muster von Innovation zu entwickeln, das heißt die Organisationen selbst wissen gar nicht, was das nach Möglichkeit bessere Neue sein kann, noch nicht einmal gesellschaftliche Relevanzen können sie ohne Rückgriff auf fachliche Wissenscorpora bestimmen.

 

Aber es gibt auch eine wissenschaftliche Vorstellung von der „Walz“. Eine Arbeitsgruppe, zu der nie neue Leute (Postdocs) stoßen, hat schnell keine neuen Ideen mehr. Es kann passieren, dass da dann alle gemeinsam alt werden. (3/x)

Aber neben dieser organisationalen Fixierung auf Personenaustausch gibt es auch ein wissenschaftsbetriebliches Motiv für Personenaustausch. Es gibt im Wissenschaftsbetrieb die Vorstellung, dass Wissenschaftler*innen die Stätten ihrer Promotion verlassen haben sollten. Hausberufungsverbote reflektieren dieses Problem. Auch Arbeitsgruppen, insbesondere naturwissenschaftliche, die nicht damit rechnen können, dass ihnen neue Ideen durch Interaktionen mit der sozialen Umwelt ihrer Mitglieder zufließen, sind darauf angewiesen, diese durch neu dazu stoßende Wissenschaftler*innen aufzunehmen. Wenn da niemand Neues kommt, besteht die Gefahr, dass in einer Forschungsgruppe der neuberufene Professor gemeinsam mit seinen am Ort bleibenden Postdocs altern würde. Da kommt dann die Befürchtung auf, im eigenen Saft vor sich hin zu schmoren und den Anschluss an andere Forschungsgruppen zu verlieren.

Sozialwissenschaften fallen aus verschiedenen Gründen seltener unter diese Problemkonstellation. Einerseits gibt es dort seltener Forschungsgruppen, und dann können sie neue Ideen im Austausch mit den sozialen Umwelten ihrer Forschenden oder einfach auch beim Zeitungslesen gewinnen, dort wird sehr viel häufiger über Themen geforscht, über die man sich mit Lai*innen austauschen kann.

 

Allerdings entspricht diese Idee wissenschaftlichen Personalaustausches eher nicht den Personalverantwortungserwartungen, die man vernünftigerweise an moderne Organisationen stellen sollte (4/x)

Ein echter Reibungspunkt. Wissenschaftsbetrieblich motivierten Ideale des Umherziehens und Ortwechselns auf Erwartungen, dass sich Organisationen ihrer Mitglieder annehmen sollten, diese eben mehr sind als eine bloße Ressource. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich vernünftigerweise diesbezügliche Erwartungen herausgebildet, die nochmals vernünftigerweise nicht für den Wissenschaftsbereich aufgehoben werden sollten. Organisationen des WSS müssen lernen, einen Gestus, Nachwuchs als Ressource zu behandeln, hinter sich zu lassen. Darum geht es bei #ichbinhanna.

 

Organisationen können aber andererseits wiederum kaum lernen, Wissenschaft zu machen, Wissenschaft geht – nochmal andererseits – nicht als purer Organisationsbetriebt (5/x)

Die Organisationen des WSS sind nicht ihrerseits Wissenschaft und können selbst keine Wissenschaft betreiben. Sie stehe im WSS in einer Art Dienstleistungsbezug für Wissenschaft. Das gerät immer wieder in Vergessenheit, weil es wiederumg Organisationen sind, die gegenüber Politik und, ja auch Gesellschaft, Wissenschaft repräsentieren. So ist in den Medien immer wieder von „einer Studie der Universität soundso“ die Rede, dabei ist dies dann fast nie eine Studie der Universität, sondern eben eine von Wissenschaftler*innen der Universität.

Andererseits ist Wissenschaft zwar, wenn sie sich der Forschung als eine ihrer Praxen bedient, auf organisiertes Erkenntnisstrebens angewiesen, das ist aber noch kein Organisationsbetrieb, auch wenn, Begriffe wie Wissenschaftsbetrieb oder gar Wissenschaftsbetriebslehre[1] auf Organisationales verweisen.

Insofern war es vermutlich ein Fehler, Universitäten auf Organisationalität zu trimmen, sog Organizational Actorhood zu beschwören, weil eine zu enge Kopplung von organisational und epistemisch motivierter Handlungslogik jede Menge Reibungsschäden und Kosten produziert (6/x)

In den 1990er Jahren, war Organizational Actorhood zu einer Art panacäischen Zauberwort geworden, das helfen sollte, alle nur vorstellbaren Probleme der Universitäten zu lösen. Gegenfragen waren selten, was genau damit gelöst werden sollte, war nicht klar. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war der Gedanke, dass die Institutionalität der der Universitäten, ihre fehlende Unterscheidbarkeit, ein Problem sei. Die möglichen Reibungsschäden waren dabei nicht im Blick und fielen erst in den Folgejahren auf. Auch die Gleichförmigkeit, die sich dadurch einstellte, dass Universitäten weitgehend sämtlichst an den gleichen Vorbildern orientiert waren, woraus eine ganz neue, nicht vorausgesehene Form von Eintönigkeit resultierte.

Eine Lösung könnte darin bestehen, eine wissenschaftssystemische Personalverantwortlichkeit der Fachcommunities zu schaffen. Diese müssten von der Wissenschaftspolitik dann so ausgestattet werden, dass das Geld zu den Aufgabenstellungen passt, und umgekehrt (7/x)

Hiermit drifte ich ins Spekulative ab. Wissenschaftssystemische Personalverantwortung hängt selbstverständlich in der Luft und die Idee hat auf Twitter dann auch Widerspruch hervorgerufen. Einzelne Reaktionen haben darin die Idee erkennt, zur Ordinarienuniversität des vergangenen Jahrhunderts zurückzukehren. Das ist damit jedoch nicht gemeint. Mir geht es bei der Idee um eine Ausschaltung eine organisationalen Ebene, die eigenständige Handlungslogiken entwickelt. Bereits jetzt ist es eins der Grundprobleme einer Debatte, die in Dauerstellen für Daueraufgaben eine Lösung sieht, dass zu wenige differenziert wird, um welche Art Dauerstellen und Daueraufgaben es sich dabei handeln soll. Wenn es um Daueraufgaben nach Maßgabe organisationaler Handlungslogiken gehen würde, wäre damit ein weiterer Bürokratisierungsschub entstanden, weil einfach neue Leute kämen, die Forschende einmal mehr mit Aufgaben und Berichtspflichten überziehen.

Ich möchte, dass es neue Formen für eine Kommunikation von Wissenschaft und Politik gibt, denn bislang kann eine Interaktion von Politik und Wissenschaft nur über Organisationen erfolgen, weil eine direkte Anordnung oder Setzung von Forschungsaufgaben schließlich nicht möglich ist. Politik ist darauf angewiesen über Organisationen mit Geld, Haushalten und Personalplänen zu kommunizieren. An Stelle davon wünsche ich mir andere Medien.

Dafür müsste vermutlich eine demokratische Arena geschaffen werden, die es jetzt noch nicht gibt eine Art Wissensparlament (8/9)

Auch das ist spekulativ. Manchen erschien das wie eine Idealisierung wissenschaftlicher Selbstverwaltung oder überkommener Ordinarienherrlichkeit. Dabei will ich kein Zurück zu alten Formen, sondern eine neue Instanz, die endlich demokratische Transparenz in das Interagieren von Politik und Wissenschaft hineingibt. Die demokratische Politik hat es bis jetzt nicht geschafft, Strukturen hervorzubringen, in denen demokratisch und partizipativ eine Politik-Wissenschaft-Interaktion geschaffen werden konnte. Die Foren und Arenen, die es gibt haben in dieser Hinsicht ihre Schwächen, zum Teil rutscht der gesamte Prozess in reines nach außen abgeschlossenes Verwalten ab. Vielfach gehören die Gremien einem funktionalen Teilsystem an (wie in etwa die DFG) oder sind komplizierte Verflechtungsarenen wie der Wissenschaftsrat. Eine offene Agora der Episteme gibt es jedoch nicht.[2]

Eine solche Extrawurst für die wissenschaftliche Wissensproduktion zu begründen, könnte möglich sein, wenn Politik liebgewordene Gewohnheiten instrumenteller Wissensaneignung überwinden könnte. (9/9)

Bleibt am Schluss die Frage, warum es gerechtfertigt sein könnte, für einen gesellschaftlichen Handlungsbereich ein eigenes quasiparlamentarisches Findungsgremium zu installieren. Ein damit verbundener Rechtfertigungsgrund wäre es, Wissenschaft, bzw. die Modi ihrer Aneignung in anderen Feldern der Gesellschaft, zu demokratisieren. Wissenschaft selbst ist selbstverständlich kein demokratisches System, die Annahme, dass andere genausogut recht haben könnten ist mit Bezug auf einunddasselbe Wissensfeld nicht haltbar. Schließlich geht es bei Wissenschaft darum, zu Aussagen zu gelangen, die möglichst wenig angreifbar sind. Politik im Gegensatz dazu fußt darauf, nicht wissen zu können, welche Lösung die zu bevorzugende ist und trotzdem zu bindenden Entscheidungen zu gelangen. Auch deshalb muss sie demokratisch sein, müssen ihre Entscheidungen zurückholbar sein. Wissenschaft ist genauso reversibel, die Aufhebung eines wissenschaftlichen Geltungsanspruches durch eine anderen folgt jedoch gänzlich anderen Regeln.

Zum Problem wird diese Divergenz erst wo beide Sphären miteinander interagieren, Ränder des Wissenschaftssystems sich nach dem Vorbild des Politischen ummodellieren, das Politische sich aber auch epistemisiert.

[1] Vgl. die einschlägige Pseudonymliteratur, z. B. Otto Wunderlich (Hg.) 2004: Entfesselte Wissenschaft. Beiträge zur Wissenschaftsbetriebslehre, Bielefeld: Webler Verlag; oder Siegfried Bär (2002): Forschen auf Deutsch: Der Machiavelli für Forscher – und solche die es noch werden wollen, Frankfurt a. M./Thun: Harri Verlag.

[2] An diesem Punkt gab es den wunderbaren Vorschlag, mal die Klopstocksche Gelehrtenrepublik anzuschauen. Was ich – zugegeben immer noch zu oberflächlich getan habe. Dieser schöne Text aus dem Jahr 1774 ist eine selten berückende Momentaufnahme des wissenschaftlichen Diskurses an der Schwelle zur Ausdifferenzierung. Klopstock fächert Wissenschaft ganz anders auf als es dann 50 Jahre passiert ist, aber gerade deshalb bereitet der Text so viel Vergnügen: Er unterscheidet zwischen Darstellenden (I) und Abhandelnden Zünften (II).  Darstellende Werke sind für Klopstock ewig abhandelnde können durch die Realität besser abbildende ersetzt werden, Darstellung hat Theorie und beanspruche beim Schaffen die ganze Seele, Abhandelnde lediglich das Urteil. Unter Erstere fallen die Redner (damit ist in etwa das gemeint, was Kinder heute Bestimmer nennen würden) und Dichter. Zweitere sind Gottesgelehrte, Rechtsgelehrte, Astronomen (mehr mit Entdeckungen Beschäftigte), Mathematiker (mehr mit Erfindungen Beschäftigte), Weltweise (im weiteren Sinne Philosophen), Scholiasten (vermutlich Scholastiker) und die Gemischte Zunft (Geographen, Heraldiker, Altsprachler, Sprachlehrer und Theoristen).

Der Hinweisgeberin bin ich jetzt noch dankbar. Die Credits dafür gehen nach Dresden. Der wunderbare Klopstock-Text ist als Faksimile und in Transkription zum Lesen hier verfügbar: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/klopstock_gelehrtenrepublik_1774.