Klassenhochschule durch Akademisierungswahn? Überlegungen zu organisationalen Auswirkungen quantitativ expansiver Bildungspolitik auf Hochschulen

Eine der vornehmsten Aufgaben der Soziologie ist es, Dinge in den Blick zu nehmen, die man ganz gerne übersehen würde. Dabei stellt sich dann nicht selten etwas ein, das man den politisch unpassenden Blick nennen kann, weil Dilemmata und Zusammenhänge offenbar werden, die sonst von den meisten nicht einmal ignoriert werden. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl hat vor nicht ganz zwei Wochen in der FAZ die bildungspolitisch unpassende Perspektive eingenommen und danach gefragt, was eigentlich auf der Ebene der Hochschulorganisationen daraus folgt, wenn Hochschulen 50 oder gar 75 % der Altersjahrgänge aufnehmen und nach Möglichkeit zu einem Abschluss bringen sollen. Denn so lauten ja die Vorgaben der Politik und nimmt man dies ernst, dann gibt es kaum vernünftige Gründe warum nicht auch eben diese 75 % der Altersjahrgänge Hochschulen besuchen sollten. Kühls Frage lautete, welche eher negativen Folgen resultieren auf Organisationsebene aus dem politisch zu Wünschenden. Ich nehme seinen Artikel zum Anlass, den Hauptgedanken daraus, dass die verschulte (Schul-)klassenuniversität Folge der Ausweitung von Hochschulbildung ist, aufzugreifen und über das Organsiationssoziologische hinaus ins Politische weiterzudenken. Zunächst werde ich deshalb Kühls bereits in verschiedenen Texten entwickelten Verschulungsbegriff nachzeichnen.

Kühls Verschulungslehre
Kühl meint, Fachbereiche hätten einen Anreiz, Studiengänge ohne Rücksicht auf die Qualität des Studiums vollaufen zu lassen, weil jeder Studierende der durchgelaufen ist, bares Geld einbringt. Der zweite Effekt bestünde in einer Senkung der Leistungsansprüche, es gebe – so Kühl – wegen der Mittelvergabesysteme ein grundsätzliches Interesse, Studierende zum Abschluss zu bringen, nachdem diesen minimale Ehrfurcht vor dem Fach eingeimpft worden ist. Schon auf einer Mikroebene gebe es Anreize an Lehrende, nicht allzu anspruchsvoll zu sein, schließlich würden schlechte Klausurergebnisse dazu führen, dass es in der Sprechstunden voll werde und wer wolle das schon. Dreien oder schlechtere Noten müssten gegenüber den Prüflingen gerechtfertigt werden, all das koste Zeit, die man nicht hat, unter anderem deshalb, weil die Organisation Hochschule immer mehr Ansprüche an ihre Mitglieder stelle. Kühl spricht deshalb von einem Nichtangriffspakt zwischen Lehrenden und Studierenden, der in etwa so lautet: Belästige du mich nicht in meiner exzellent geclusterten Forschung, dann bekommst Du von mir ohne großen Aufwand exzellente Noten.
Hochschullehrer würden, wo sie können, deshalb in besagte exzellenzgeclusterte Forschung fliehen und die Basislehre immer prekärer beschäftigen Hilfskräften überlassen. Was auf der Ebene des Einzelnen verständlich sei, führe auf der Ebene der Organisation zu Verschulung, d. h. fixen Studienplänen, klassenartiger Unterrichtsorganisation, Anwesenheitspflichten, Prüfungsinflation etc. Die Semantik der Organisationen, also die Art, wie Hochschulen sich selbst in Hinblick auf Studium und Lehre beschreiben und wie in diesem Hinblick über sie geschrieben wird, passt sich den Erwartungen des verschulten Betriebes immer mehr an.
Weder der Trend noch der Wunsch nach Verschulung des Hochschulstudiums seien etwas Neues. Helmut Schelsky habe so etwas schon in den 1960er Jahren empfohlen und auch vor zwanzig Jahren Anfang der 1990er Jahre habe es daran anknüpfende Überlegungen bei der HRK gegeben.
Verschulung und was das in der Konsequenz bedeute lasse sich sehr gut – so Kühl weiter – in den USA beobachten: Dort gebe es neben zahlenmäßig wenigen Liberal Arts Colleges und den privaten Forschungsuniversitäten, sowie den international bekannten staatlichen Universitäten inzwischen eine ganze Reihe von berufsausbildungsorientierten Hochschulen, die auf Namen wie Corinthian College inc., oder auch Kaplan Higher Education Corporation hören. Verschulung – so Kühl – sei eine fast schon logische Folge daraus, die Hochschulen für fast alle zu öffnen, nur mit einer universitären Bildung habe das alles dann nichts mehr zu tun.

Was das politisch bedeuten kann
Mit der schließenden Bemerkung gerät Kühl an den Punkt, an dem die Probleme erst so richtig beginnen. Denn, wenn fast alle studieren (im Sinne verschulten Studierens), wer eigentlich studiert dann noch in dem Sinne, der für Studium einmal gestanden hat. Die USA beantworten diese Frage mit sozialer Segregation, damit, dass eine kleine Minderheit an den richtig guten Colleges und Universitäten studiert und sich aus dieser Minderheit die Eliten der verschiedenen Handlungsfelder rekrutieren. Der Rest studiert dann an anderen Hochschulen, an hierzulande unbekannte State Universitys kleiner Staaten oder Colleges, an profit- und berufsorientierten Hochschulen oder eben an öffentlichen oder privaten Community Colleges. Insbesondere an den letztgenannten Hochschulen sind die Abbruchquoten am höchsten, obwohl die Leistungsansprüche dort die niedrigsten sein dürften. Vieles, was man dort studieren kann, hat mit dem, was hierzulande unter Hochschulstudium verstanden wird, nicht viel zu tun. Dass die von Kühl in seiner Aufzählung benannte Corinthian College Inc. am 23. April dichtgemacht und am Montag vergangener Woche ihren Bankrott erklärt hat, ändert nichts Grundsätzliches an Kühls Befund.
Die us-amerikanische Lösung, die Studierenden auf Basis der ökonomischen Leistungsfähigkeit ihrer Herkunftsfamilien, an unterschiedliche Hochschulen zu verteilen, scheint für Deutschland nicht gangbar. Dennoch sieht es aus meiner Sicht derzeit so aus, als habe niemand das Thema Folgen der Bildungsexpansion für Hochschulen zu Ende gedacht. Anders ist das Durcheinander zunächst gar nicht zusammenhängend erscheinender Debatten jedenfalls nicht zu erklären. Denn zum einen ist da ein hochschul- und forschungspolitischer Diskursstrang, der Hochschulen gleichen Typs auseinanderstratifizieren will, in etwa um einige international sichtbare Universitäten zu schaffen. Dann aber setzen Gegenbewegungen ein oder greift doch die Angst vor tatsächlich schlechten Hochschulen (also vor etwas, was wir hier noch längst nicht so wie in den USA kennen) um sich. Die Gegenbewegung ist zum einen landes- und regionalpolitisch motiviert, zum anderen bildungspolitisch. Ganze Großregionen ohne sogenannte Exzellenzhochschulen will die deutsche Hochschulpolitik eher nicht, und bildungspolitisch ist es überhaupt nicht ausdiskutiert, was daraus folgen soll, dass die Forschungspolitik sich herausgehobene Hochschulen wünscht.
Jedenfalls, die Ausgangslage ist alles andere als eine einfache. Zunächst einmal ist es wünschenswert, wenn viele studieren und das aus vielerlei Hinsichten: Studium offeriert Chancen zur Lebensentfaltung, kann biographisch wichtig sein, weil es ein Innehalten zwischen Schule und Beruf ist und schließlich, wenn viele fach- und nicht bloß berufsbezogen studieren, dann sind viele mit Wissen, das über das unmittelbar beruflich Benötigte hinausgeht in Berührung gekommen; das kann für eine Gesellschaft nur gut sein. Und dann gibt es noch die ganzen ökonomisch-utilitaristischen Argumente: Wer studiert hat erzielt ein höheres Lebensarbeitseinkommen, ist seltener arbeitslos, belastet damit die Sozialsysteme seltener. Zum dritten gibt es die ganzen internationalen Vergleichszahlen: Denen zufolge sind Volkswirtschaften mit hohem AkademikerInnenanteil wirtschaftlich erfolgreicher und reicher. Liegt da nicht der Schluss nahe, dass das Studium für alle eine effektive Maßnahme gegen Armut und für nationale Wohlfahrt sein könnte und dass gesellschaftlicher Reichtum eine Folge von Akademisierung ist. Nur sieht es leider so aus, als wirke die Kausalität zunächst einmal in der umgekehrten Richtung: Akademisierung ist mithin eine Folge zunehmenden Reichtums. Wie eine Welle Bote, trüge danach gesellschaftlicher Reichtum das Bildungsniveau der Menschen nach oben. Gesellschaftlicher Reichtum kann also eine Folge von Bildung sein, aber er kann auch aus gänzlich anderen Quellen stammen (unausgeglichenen Handelsbeziehung, Ausbeutung von Kolonien, besetzten anderen Ländern, Umweltverbrauch, Rohstoffen etc.).
Die nun hochschulpolitisch fast noch interessante Frage ist, was das Studium für fast alle für den Teil hochschulischer, insbesondere universitärer Sozialisation bedeutet, der nicht berufsbezogen ist. Der berufsbezogene Teil ist, wie Kühl beschrieben hat, wohlig in den Verschulungsprozess eingebettet, was aber wird aus dem reflexionsbezogenen Teil. Für einen großen Teil der nach neuen Bedingungen Studierenden wird er wahrscheinlich verschwinden. Er wird auch aus organisatorischen Gründen verschwinden, denn die dominierende Politik lässt keinerlei Bereitschaft erkennen, dem quantitativen Ausweitungsanspruch in Bezug auf die Partizipation von immer größeren Anteilen der Alterjahrgänge an Hochschulbildung auch Geldströme folgen zu lassen. In der Konsequenz bedeutet das, dass in den Hochschulen mit dem gleichen Geld immer mehr Aufgaben bewältig werden müssen. Vormals vorhandene Restfreiräume werden damit aufgezehrt. Für den Fortbestand nichtindierter, aber für individuelle Bildungsentwicklungen funktionaler extracurricularer Effekte von Hochschulstudien sind das keine guten Voraussetzungen.
Gesellschaftspolitisch bzw. ungleichheitssoziologisch noch interessanter finde ich nun die Frage, wie extracurrikulare Sozialisation an Wissenschaft und Reflexion stattfindet, wenn sie nicht mehr in ein Universitätsstudium integriert ist. Schließlich kann eine Gesellschaft nicht ganz darauf verzichten, dass man irgendwo Reflektieren lernt. Nun könnte man das am familiären Abendbrottisch lernen, im Internat oder später als Assistent/in eines Vorstandsvorsitzenden oder Referent/in eines Hochschulpräsidenten, nur muss man dazu aus der richtigen Familie kommen, Geld oder die richtigen Netzwerke haben. D. h. möglicherweise wird es eine nichtintendierte Folge der Öffnung der Universitäten sein, dass das Einüben von Reflexivität wieder mit der Selbstreproduktion von sozialen Eliten zusammenfällt. Das wäre ein Rückfall zu einer wieder nach Klassen gegliederten Gesellschaft und ein Rückschlag gegen alle Bemühungen um gesellschaftliche Durchlässigkeit und soziale Mobilität und kann so nur in einem kleinen Teil des politischen Spektrums rechts von der Mitte gewollt werden.
Die Debatte um einen sogenannten Akademisierungswahn spiegelt das wider und Einigen, die sich daran tummeln, geht es eben genau darum, um soziale Schließung, darum, den alten bürgerlichen Charakter der akademischen Welt wiederzubeleben. Das sind dann auch die, die nach einer Verknappung von Studienplätzen rufen. Hiermit wäre die Motivation vieler VertreterInnen der Akademisierungswahnthese erklärt, nur eben nicht die von allen. Es gibt noch die, denen es um eine Verteidigung der Eigenlogik der Wissenschaft gegen die studentischen Massen und Schulklassen, die sich vermeintlich ja nur für beruflich Verwertbares interessieren, geht. Und genau hier liegt ein Problem, über das es sich noch lohnen wird, zu diskutieren: Lange Zeit war die Bewahrung der Eigenlogik der Wissenschaft ein wenn auch diffus linkes Thema, weil es gegen einen Vereinnahmung der Wissenschaft von Seiten wirtschaftlicher Nutzenerwartungen ging. Das aber ändert sich gerade. Es geht nun immer öfter gegen gesellschaftlicher Erwartungen aller Art, insbesondere aber gegen solche, die nicht aus ökonomischen, sondern aus politischen Interessen heraus artikuliert werden. Da wird dann schon einmal der Wunsch von Umweltverbänden oder rot-grünen Landesregierungen, es solle mehr transdisziplinäre Forschung geben, mit der Mahnung zurückgewiesen, schon zweimal habe man im Deutschland des 20. Jahrhunderts erlebt, dass Wissenschaft ausschließlich in den Dienst gesellschaftlicher Interessen gestellt worden ist. Was wir da heute zu erleben scheinen, ist offenbar so etwas wie eine konservative Wiederaneignung der Eigenlogik der Wissenschaft. Angesichts dessen, dass hochschul- und wissenschaftspolitische Veränderungen immer dann möglich waren, wenn normativ und technokratisch Denkende zusammenkamen, ist es ein Problem, wenn heute an sozialer Schließung interessierte Sozialbesitzstandwahrer und an der Bewahrung der Eigenlogik und Eigenrelevanz der Wissenschaft Interessierte auf einen Nenner kommen. Denn das könnte heißen, dass die Wissenschaftspolitik der nächsten Jahre ein dorniges Feld wird, für all diejenigen, die mehr wollen, als nur einen status quo zu verwalten.