Ein Lesebericht zu Frieder Vogelmanns „Wirksamkeit des Wissens“, Suhrkamp 2022

Der folgende Text ist ein Lesebericht einer 570seitigen philosophischen Monographie, Frieder Vogelmanns Wirksamkeit des Wissens, die er selbst politische Epistemologie nennt. Inwiefern diese ein Sonder- oder Unterfall sozialer Epistemologie ist und, was sie von dieser unterscheidet, sprengt die Denktiefe eines Leseberichtes und ist deshalb an anderer Stelle zu klären. Methodisch bin ich auf ziemlich fragwürdige Weise vorgegangen, ursprünglich gar nicht in der Absicht, einen Text zu erstellen: Ich habe eine Twitterthread nach dem anderen geschrieben und gepostet, jeweils nach Lektüreabschluss eines Kapitels. Es gibt in dem Buch 9 Kapitel in drei Abschnitten, ein Einleitungskapitel und zwei Zwischenfazits. Der Lektüreprozess zog sich über fast zwei Monate, Ende August bis Mitte Oktober hin. Diese etwa 80 Tweets habe ich zu einem Text zusammengecopypastet und so überarbeitet, dass das alles lesbar wird. Es gibt also zwei hocharbiträre Extraktionsschritte, zunächst Unterstreichungen und Markierungen im Text und dann nach einem Durchgehen durch diese markierten Stellen die Auswahl dessen, was dann in den Tweets stand. Dabei hat der Text aus meiner Sicht funktioniert, war plausibel im Aufbau, hatte trotz seiner Länge keinen Längen, nirgendwo stehen Fragezeichen (mit denen ich sonst Unplausibles oder Fragwürdiges markiere) am Rand. Wichtig war mir die Lektüre, weil ich mir von ihr Antworten auf Fragen, die mir vor zwanzig Jahren, als ich am IfS der TU Berlin die Kernpassagen meiner Dissertation geschrieben hab, offenblieben. Damals hatte ich über den Wandel wissenschaftspolitischer Geltungsansprüche aus einer vornehmlich STS-inspirierten Perspektive geschrieben. Wahrheit, was diese genau ist, fanden wir dort damals, ließe sich ohnehin nicht ganz klären, da sie sich doch im Handeln, darin, ob die Praxisverkettungen in den Laboren und Hörsälen und Schreibräumen zu kommunizierbaren Ergebnissen kommen, manifestiere. Später fiel mir auf, dass das manchmal, gerade in der Auseinandersetzung mit Politik, eine unbefriedigende Erklärlücke hinterlässt. Die Lektüre hat geholfen, die Ränder und Konturen der Erklärlücke genauer zu bestimmen. Viel mehr, finde ich, kann eine Monographie kaum leisten.

 

Die Einleitung reißt eine Menge Fragen an, die mir selbst beim Schreiben begegnet sind und ist interessant genug gemacht, um erwarten zu lassen, dass es sich lohnen wird, mit dem Buch weiterzumachen. Dies umso mehr, als ich Monographien derartiger Länge eher selten von vorne bis hinten lese, zumal dann auch, wenn sie, so wie diese, mit einer Anleitung zu Lektüreabkürzungen daherkommt. Dass ich mich dabei nicht im Text zuhause fühlen werde, in etwa, weil mir all die Referenzen vertraut sind, ist absehbar. Ich nehme dieser Art Fremdheitserleben aber gerne in Kauf, weil die Berührungspunkte zu eigen Fragen gut genug erkennbar sind. Social Epistemology, Texte aus dem früheren und mittleren Oeuvre Fullers (insbesondere „The Governance of Science“(2000)[1] haben gerade beim Schreiben meiner Dissertation eine erhebliche Bedeutung gehabt. Da ging es allerdings um soziale, nicht politische Epistemologie. Vogelmanns Idee, einer Wirksamkeit von Wissen, als einer Art epistemischer Materialität, die sich in der Interaktion mit es Rezipierenden entfaltet, nachzuforschen, finde ich überzeugend, nicht nur überredend. Politizität von Wissen, habe ich selbst schon in einem Text mal gebraucht, nun zu lesen, wie sie theoretisch gebaut werden kann, wird mir ein Vergnügen sein und gedanklich an eigene Ausflüge in die Metadiskussion Transformativer Wissenschaft (aka. Strohschneider-Debatte 2015 ff.)[2] anknüpfen.

 

Auf der Suche nach Hinweisen, wie Philosophie von einer eigenlogischen Wirksamkeit von Wissen ausgeht, hat Vogelmann für das 1. Kapitel bei Platon nachgesehen. Der geht, in Hinblick auf philosophisches Wissen vom guten Leben, davon aus, dass es keines Gebrauchs bedarf, um wirksam zu sein, weil es aus sich selbst heraus wirksam ist. Es unterscheidet sich damit von technischem Wissen, das einerseits auf Gebrauch angewiesen, andererseits ambivalent ist, weil sein Gebrauch zum Guten oder zum Schlechten (Leben) erfolgen kann. Philosophisches, nicht sophistisches nicht technisches Wissen hingegen, könne nur in einer Richtung, der guten, wirken, wenn es wirke.

Als unvollständig auf die ihm ausgesetzte Person wirkendes könne es auch schaden und seine Wirkkraft auf sowohl Leben und Polis der Person sei auch „nur“ eine schwache Kraft, ob sie zustandekomme, hänge an der Gunst des Zeitpunkts. Heute würden wir sagen, Timing ist wichtig, wenn es fehlt, obsiegt etwas anderes, z. B. Geld- oder Geltungsinteresse.

 

Die nächste Station ist dann Frankfurt a. M. etwa 2300 Jahre später. Der damals noch Wiesengrund heißende Theodor W. Adorno fragte sich in seiner Antrittsvorlesung als PD 1931, was philosophisches Deuten ausmache. Er fand, es müsse antipositivistisch, aber nicht wissenschaftsfeindlich, antimetaphysisch, ohne vulgärnaturalistisch zu sein und antikontemplativ, ohne bloß pragmatisch zu sein, sein. Derartiges Deuten eines Rätsels/Problems zerstöre es. Und verändere damit Wirklichkeit. Ca. 30 Jahre später schwächte er diese kraftvolle Wirksamkeitszuschreibung an Wissen zu einem bloßen Einspruch gegen vor allem soziale, gesellschaftliche Wirklichkeit ab. Sein Kollege Max Horkheimer unterschied traditionelles und kritisches Wissen. Ersteres sei sich der Bedingungen seines Zustandekommens nicht bewusst und würde deshalb seine unmittelbare Wirksamkeit ideologisch motiviert verschleiern. Ziel kritischen Wissens sei es, die Gesellschaft zu befreien. Sein Gegenstand sei dabei die Gesellschaft im Ganzen. Es reflektiere seine eigenen Existenzbedingungen und werde dadurch wirksam, womöglich zu seinem Wirken selbst. Wie auch bei Platon zielt diese Art (theoretischen) Wissens auf die Subjekte, die ihm ausgesetzt sind, indem es sie zu befreien trachte. Diese Wirkung, die Frage, wie sie sich zutrage, interessierte beide, Adorno und Horkheimer weit mehr, als die Frage, welche Subjekte dies denn genau seien.

Seine dritte Stichprobe zieht Vogelmann bei Rawls. Er schließt also an antike und linke Quellen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts eine nichtlinke aus der 2. Hälfte desselben Jahrhunderts an. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, um klarzumachen, dass das Unterstellen einer Wirksamkeit von Wissen kein linkes Projekt ist und auch wichtig, um zu belegen, wie liberale Theorie eigenständige Wissenswirksamkeit baute. Politische Theorie, meinte Rawls, habe vier Aufgaben: 1., ausgehend von gesellschaftlichen Konflikten das Bedürfnis nach Ordnung zu befriedigen, 2. Orientierung im Raum der möglichen Zwecke zu schaffen, 3. uns mit unserer eigenen Gesellschaft zu versöhnen und 4. die Grenzen des politisch Möglichen zu erkunden. Praktische Aufgabe politischer Philosophie sei es nach Rawls‘ Auffassung, die wichtigsten und heftigstumstrittensten Fragen, die den Konflikten einer politischen Gesellschaft zugrunde liegen, begrifflich klar zu fassen. Politische Konflikte führt Rawls damit auf philosophische Differenzen zurück und schreibt dadurch dem Wissen der politischen Philosophie große Wirksamkeit zu. Distanz lässt Vogelmann zu Rawl’s Konzept vernünftigen politischen Dissenses erkennen. Er meint zum einen, in Rawls‘ Vernünftigkeitskonzept ein gesellschaftliches Erziehungsprogramm zum Moderatsein zu erkennen und ist auch von Rawl’s argumentativer Überzeugungspraxis, die nicht ohne suggestive Elemente auskommt, nicht vollends überzeugt. Rawls‘ Verünftigkeitskreis, der die demokratisch satisfaktionfähigen politischen Lehren umfassen will, ist ihm etwas dünn definiert und auch nicht gut genug vom überwölbendem Gesamtkonzept staatlicher, organisierter Gesellschaftlichkeit abgegrenzt. Auch deshalb sei es möglich, Rawls‘ Rahmen wohlwollend als eine gesellschaftlich erziehende Moralphilosophie der Demokratie, weniger wohlwollend als eine Art Verwaltungslehre zu bezeichnen.

Nach den Stichproben wendet sich Vogelmann im 4. Kapitel der Frage zu, was denn nun eigentlich philosophisches Wissen ist, von dem hinreichend oft angenommen werde, es sei selbstformend, aus sich selbst heraus wirksam. Dafür, meint Vogelmann, müsse man aber wissen, ob es philosophisches Wissen überhaupt gibt und falls ja, was es ausmache. Hilary Kornblith z. B. meine, es gebe gar keins, weil ein Fortschritt bei der Beantwortung philosophischer Fragen nicht auszumachen sei. Aber genau das könne ein Spezifikum philosophischen Wissens sein, meint Vogelmann. Wissen sei nicht durch Fortschritt definiert, so dass eine Abwesenheit von Fortschritt nicht besage, dass man es mit etwas anderem als Wissen zu tun habe. Es gebe anders als bei fast allen anderen Arten des Wissens beim philosophischen Wissen keine Konvergenz von Expert:innenmeinungen. Phil. Wissen ist nicht unumstritten, nicht apodiktisch und in erheblichem Maß dadurch negativ definiert, dass Philosophie einen nicht unerheblichen Aufwand eingeht zu klären, was kein philosophisches Wissen ist. Wer philosophisch etwas weiß, weiß, was er damit nicht weiß. Philosophisches Wissen hat damit oft die Form von Unterscheidungen. Als Wissen 2. Ordnung ist es Wissen um die Fruchtbarkeit von Ansätzen. Intuition spiele bei philosophischem Wissen eine Rolle. Es wirkt konstitutiv bei der Konstruktion einer Erfahrung von Wahrheit mit. Um das tun zu können, muss es sich gegen außerphilosophische Praxen der Überzeugung, seien sie autoritärer oder fremdfachlicher Natur, verwahren. Vielleicht rührt die Schärfe, mit der Philosophen gelegentlich ihr Terrain bewachen, daher. Vielleicht auch die Reaktanz, mit der philosophische Diskurse auf Arbeiten wie Randall Collins „Sociology of Philosophies“[3] reagierten. Spuren dieser Reaktanz finden sich auch in Reaktionen von wissenschaftstheoretisch eingelesenen Naturwissenschaftler:innen, wenn sie Wissenschaftssoziologie begegnen. Vogelmann meint, Philosophie habe sich reinigen müssen gegen Unterfangen, sie zum Gegenstand historiographischer Betrachtung zu machen oder das Geschlecht ihrer fast immer männlichen Protagonisten zum Thema zu machen. Letzteres habe zu einem Ausschluss von Frauen geführt. Noch heute gebe es in der Philosophie ähnlich wenige Frauen wie in einigen Technikwissenschaften. Er schlägt deshalb vor, zu einer Genealogie phil. Wissens zu gelangen, die diese Ausschlüsse reflektiert.

Das 5. Kapitel schließt an das an, was bei Horkheimer (s. 2. Kapitel) emanzipierende Kritik hieß und noch nicht explizit gemacht worden ist. Zunächst geht es um das Bild, besser Bilder von Kritik: Es gibt da vermessende Kritik, die beurteilen will, störende Kritik, die ihren Gegenstand aufheben will, ihm den Boden entziehen will und freilassende Kritik, die zum Ziel hat, die sie Erhebenden von etwas zu befreien. Insbesondere die 3. Art Kritik verweist auf eine „paternalistische Konstellation“. Es gibt darin ein Machtungleichgewicht, vielleicht ein Gefangensein, das die Kritiker:innen aufzuheben trachten. Emanzipierende Kritik muss, wenn sie als eine Sonderform philosophischen selbstwirksamen Wissens fungieren will, die Existenzbedingungen wahrheitsfähiger Aussagen zum Gegenstand machen. Sie muss Gegenwahrheiten, sperriges Wissen hervorbringen und zwar so, dass sie die Grenzen der o. g. Bedingungen testet, diese jedoch nicht schleift. Und es muss Wissen über die Geschichte des obwaltenden Wahrheitsregimes sein und diese so schreiben, dass sie sich. gegen es wendet, seine Kontingenz deutlich macht. Im Ergebnis würde sich eine agonale Pluralität von Wahrheit(en) einstellen. Phil. Wissen konkurriert/interagiert dabei mit Praktiken, in denen wir Wahrheit schaffen: Z. B. wissenschaftlichen des Experimente Machens, Beweise Führens, literaturwissenschaftlichen Lesens, juristischen des vor Gericht Verhandelns oder politischen wie Revolution oder Demonstration. Nach den Letztgenannten werde Frauen-, Arbeiter:innen- oder Minderheitenrechte wahr oder der Demos um sie ergänzt, ohne dass allerdings ihre politische und gesellschaftliche Streitigkeit entfiele. Es kann also etwas wahr sein, aber strittig bleiben, Insofern ist Wahrheit agonal und immer auch gegen etwas. Würde das, wogegen sie sich richtet, nicht mehr existieren, bräuchte es sie nicht und sie könnte keine Kraft entfalten.

Im 6. Kapitel fühle ich mich dann sehr viel mehr zuhause, dort verhandelt Vogelmann in Hülle und Fülle Fragen, die mir selbst auch begegnet sind. Ich kann deshalb auch den metaparaphrasierenden Modus der letzten Absätze etwas verlassen. Zunächst geht es ihm darum, die Rede von einem postfaktischen Zeitalter zurückzuweisen. 1., weil dieses ein vorangehendes faktisches Zeitalter voraussetzen würde, 2, weil „konzeptuelle Kriterien fehlten, so reiche Zynismus nicht aus Postfaktizität zu konstituieren und 3. hat Vogelmann erkenntnistheoretisch motivierte Zweifel, der Art, dass Wahrheit nicht einfach auf der Straße oder sonstwo herumliege, sichtbar für alle, die irgendwie in ihre Richtung blickten. Schließlich sei sie auch multipel und agonal, wie das Vorkapitel gezeigt habe. Sie sei Produkt politischer, wissenschaftlicher und medialer Auseinandersetzungen, Vogelmann nennt diese Auseinandersetzungen „Kämpfe“. Diesen Kämpfen und den von ihnen tangierten Kampfzonen könne man weder mit Neopositivismus noch mit Relativismus entfleuchen, muss sich ihnen also stellen. Vogelmann schlägt vor, sich dazu einer Rawls-Einsicht (RE) und einer Arendt-Einsicht (AE) zu bedienen. RE besagt, dass Wissenschaft den Pluralismus vernünftiger politischer Lehren nicht aufzuheben vermag, AE hingegen besagt, dass Wissenschaft in sich ein tyrannisches Moment mitführe, weil sie in Hinblick auf einen konkreten Sachverhalt, nicht gleichzeitig zu diesem oder jenem Ergebnis kommen könne. Verkompliziert wird das bei Arendt noch dadurch, dass sie zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten unterscheide. Erstere seien gegen Politik immun, Letztere nicht (z. B., wenn von historischen Wahrheiten die Rede ist). Als Ausweg schlägt Vogelmann vor, die Beziehung von Wahrheit und Politik nicht extern, sondern intern zu konzeptualisieren. Er nennt diese Weise einer nicht losgelöst von Gesellschaftlichem beschreibbaren „Infrastruktur der Wissensproduktion“ „nichtsouveräne Epistemologie“, weil Wissen in „epistemisch verketteten Praktiken“ erzeugt werde. Die dann folgenden erklärenden Überlegungen zu einer Standpunkttheorie ohne Standpunkt weil es selbigen weder nicht geben, noch metaphorisch geben könne, finde ich überzeugend dargelegt und extrem klug gebaut. In Hinblick auf die Perspektive auf Populismus habe ich kleinere Einwände anzumelden, für den Argumentationsgang des Buches ist das aber nicht wichtig.

 

Das 7. Kapitel ist dann wieder unvertrautes Terrain: Wahrheitstheorie. Vogelmann will klären, wie Wahrheit eine Kraft sein kann. Als Kraft richtet sie sich, wie schon oben gesagt, notwendig gegen ihr Gegenteil (Falschheit) und ist eine von mehreren anderen Kräften, gegen die sie sich auch richtet. Eine Kraft ist insofern nie allein auf der Welt. Wie und gegen welche Kräfte sie das tut, ist noch ungeklärt. Soziologie wähnt sich für Fragen dieser Art, danach, was Wahrheit ist oder wie sie möglich ist, ganz gerne und oft als unzuständig, Philosophie (jdf. In ihrer zunehmend dominierenden Form als Analytische Philosophie) scheint mir eine Neigung zu entwickeln, die Frage nach der Wahrheit in Logeleien zu erschütten. Das kann man, wenn man eine politische Epistemologie vorlegen will, natürlich nicht machen. Deshalb ist, (ich überspringe jetzt eine Reihe Gedanken) Wahrheit bei Vogelmann eine Kraft, die (sprachphilosophisch gesehen). Aus einer Spannung von Welt und Bewusstsein resultiert, emergent ist und prekären Konfigurationen entstammt. Als da z. B. wären: die Proben und Prozesse des Rechts, Labore und Verfahren der Wissenschaft, und die Aufhebung der „Polizey“ in der Politik. In namedroppender Intention kann man dafür französische Theorie, die Namen Foucault, Latour und Ranciere anführen, was Vogelmann auch macht. Bei all diesen wahrheitshervorbringenden Praxiskonfigurationen kommt es nun darauf an, dass sie nicht von Mächten, ihren Interessen und alternativen Kräften kolonisiert werden.

Wenn dieses Emergieren aber gelingt, ersteht Wahrheit als Kraft, deren Zustandekommen nicht auf irgendetwas Vorgängiges zurückgeführt werden kann, nicht Element, sondern Resultat der betreffenden Praxen ist.  Als Kraft wirkt sie nur auf Subjektivitäten und als Kraft ist sie schwach und dauernd gefährdet, von anderen Kräften neutralisiert zu werden. Wahrheit hat dennoch einen „historisch disruptiven Sperrklinkeneffekt“, denn nach ihrem Einwirken auf Subjektivitäten kann man nicht mehr hinter, oder vor den Zeitpunkt ihres Erfahrenwerdens zurück. Jetzt fehlt noch die „technische“ Erklärung, wie Wahrheit Kraft entwickelt. Es gibt drei Theoriefamilien, die sich anschickten zu erklären, wie dies passiert: eine korrespondenztheoretische (1.), eine kohärenztheoretische (2.) und eine unverborgenheitstheoretische (3.). (1.) Präpositionen entfalten dann Wahrheit, wenn sie mit der Wirklichkeit, dem, was man wahrnehmen und vollziehen kann, übereinstimmen. Horkheimer hatte das polemisch in dem Satz gefasst, dass die „Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen sich nicht im Kopf des Gelehrten, sondern in der Industrie“ vollziehe. (2.) Aussagen müssen mit anderen Aussagen übereinstimmen, in einem weiten, explanatorisch unterstützenden Sinne mit diesen zusammen ein sinnvolles Bezugssystem möglich machen. Wie sie das tun, ist immer kontextgebunden und historisch kontingent, was in der einen Gesellschaft oder sozialen Konstellation ein sinnvolles Bezugssystem ergibt, muss das unter ganz anderen Begebenheiten noch lange nicht tun. Deshalb kann Kohärenz nie einziges Wahrheitskriterium sein. (3.) Und schließlich muss Wahrheit „sozial sehbar“ sein, das ist ihre Unverborgenheitskomponente, denn sie emergiert aus den jeweils gesellschaftlich verfügbaren Praktiken.

Falschheit als Gegenpol zu Wahrheit, ist bei all dem keine andere Kraft, sondern steht für das Ausbleiben des Emergierens, wenn die betreffende soziale Praxis fehlschlägt. Natürlich können dabei andere Kräfte obwalten und den Platz der Wahrheit usurpieren. Zusammenziehend: Wahrheit ist als Kraft definitionsgemäß agonal, ihre Nichtwirkung kann nur da sein, wo andere Kräfte ihre Wirkung blockieren (und sich dabei ggf. als Wahrheit ausgeben). Plural ist sie, weil sie immer Bestandteil von Kräfteverhältnissen ist, als sperriges Wissen kann sie von bestehenden Wahrheitsregimen befreien, diese hinter sich lassen. Verschiedene prekäre Konfigurationen können unterschiedliche Wahrheiten emergieren lassen: im Sinne eines nichtrelativistischen Pluralismus. Nichtrelativistisch ist dieser Pluralismus der Wahrheiten, weil nicht gleichgültig ist, welche Wahrheit konkret relevant wird und diese Wahrheiten dennoch in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Es gibt kein Primat, weder von Gott noch Staat noch Kalifat und auch kein epistemisches Privileg der Wissenschaft (wie sollte es letzteres auch geben, wenn das, was Wissenschaft sein kann nicht souverän ist von Politischem und Sozialem). Das heißt aber nicht, dass es keine epistemischen Unterschiede gäbe. An den Praxen sollt ihr sie erkennen, ob sie geeignet sind, etwas Irreduzibles, etwas, was man nicht kommen sehen konnte, entstehen zu lassen.

Wahrheit als Kraft zu fassen, ist immer noch keine Begriffsbestimmung von Wahrheit. Das macht Vogelmann im 8. Kapitel mit Blick auf die Wahrheit (W1) und Wirksamkeit (W2) von Wissen, die ja in einer konkreten sozialen Konstellation durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander zu stehen schein können. Dies macht er, indem er zunächst nachsieht, wie W1+W2 im analytisch-epistemologischen Projekt bestimmt werden. Dort liegt der Fokus auf W1, der Wahrheit. Wissen wird tendenziell starr, atomistisch und individualistisch gefasst, es ist fern der Praxen, eher gesellschaftsunabhängig und wird individuell „besessen“ und dies ohne Ansehen der Person des es „Besitzenden“. Den argumentativen Maschinenraum, wie genau eine Präpositionen gebaut sein muss, um Wissen genannt werden zu können, überspringe ich (es geht da u. a. um unanfechtbarkeits- und fallibilitätstheoretische Überlegungen). Wichtig für den knappen Bericht hier ist, dass das analytische Projektgar nicht dazu kommt nach W2 der Wirksamkeit zu fragen. Und auch, wie die isolierten Präpositionen, deren „logisches Schicksal“ verfolgt wird, zustande gekommen sind, interessiert im analytischen Zusammenhang nicht wirklich. Ganz anders der Pragmatismus und seine handlungs- und praxistheoretischen Anschlüsse. Diese waren außerhalb der Philosophie ungleich erfolgreicher und dominieren die deutschsprachigen bzw. deutschen STS aber auch Felder wie Umweltforschung, BNE und Bildungsforschung etc.. Bei Dewey einem der Hauptvertreter des Pragmatismus wurde Wissen gleich zu der „intelligenten Form des Handelns“, zu der Art Handeln, das Umgebung und weiteres Handeln kontrolliert. Wissen ist im Pragmatismus also nichts anderes als eine Form des Handelns. Vogelmann nennt das antiepistemischen Reduktionismus, dem auch intelligentere Formen praxeologischen Denkens wie die von Joseph Rouse nicht entgingen. Zwar gelinge es Rouse, die Verzahnung von Praktiken, Materialitäten und Diskursen zu beschreiben, aber die Bestimmung „epistemischer Signifikanz“ gelinge ihm nicht, denn, wenn Wissen als Handeln gefasst wird, müsse es möglich sein, über „wahres Handeln“ zu sprechen. Was aber ist mit falschem und wie unterscheidet man es vom „wahren“? Die Antwort auf diese Frage finde man mit Rouse nicht.

Bis hier war immer noch nicht identifiziert, was Wissen ist in Vogelmanns Theorie, das passiert dann aber im 9. und abschließenden Kapitel. Vogelmann fasst dort Wissen als „mediatisierte Form der Kraft von Wahrheit“. Das scheint ein schlauer Move zu sein, denn damit räumt man gleich mehrere Probleme zugleich ab, insbesondere das der potentiellen Historizität von Wissen und das des „falschen Wissens“ auch. Schließlich ist Falschheit keine Kraft, sondern benennt „nur“ das Ausbleiben der Erfahrung von Wahrheit. Mediatisiert wird die Kraft in dem Moment, wo sie versprachlicht, womöglich gar verschriftlicht wird. Von da an setzen Ereignisketten ein, während der Erfahrung und ihr Entstehungszusammenhang von Geltung getrennt werden. Daher resultiert auch die Institutionalisierung des Desinteresses am Emergenzzusammenhang der Wahrheitserfahrung. Seine Besonderheiten vergessen zu machen entfaltet Sinn. Diese Trennung ist aber nicht nonreversibel, sie kann aufgehoben werden, z. B. dadurch, dass an genau diese o. g. Besonderheiten erinnert wird. Und die Ereigniskette, an der viele teilhaben, ist stets prekär, sie kann abbrechen. Anders als im Analytischen Projekt, in dem Wissen als aus einzelnen Präpositionen gebildet beschrieben wird, ist Vogelmanns Wissen als Netz beschrieben, was m. E. treffend ist. Denn das Netz bildet begrifflich sehr viel ab: Es kann löchrig sein, verhüllen wie Textil, aber auch Struktur mittels derer man irgendwo hochklettern kann sein, es kann verbinden, aber auch verstricken, behindern, man kann sich darin verfangen. Der Bezug auf Präpositionen ist damit nicht aufgehoben, aber sie bilden Wissen nicht als einzelne, sondern als Netzknoten. Das lässt sich anhand der vorsokratischen Atomistik ganz gut vermitteln. Schreibt man den, in der Analytischen Logelei als Ausgangspunkt geltenden Satz, „A weiß, dass p“, zu „Susanne weiß, dass es Atome gibt“ um, weiß Susanne etwas ganz anderes als Demokrit vor etwa 2400 Jahren, dessen Atomlehre eine Art universelle Seinslehre war und dem auch die Seele als aus besonders feinen, geschmeidigen Atomen gebildet galt. Demokrit hatte damit eine antike Ontologie, Susanne hingegen ein naturwissenschaftliches empirisch anschlussfähiges Modell zu Hand. Susanne weiß also auf der einen Seite viel mehr als Demokrit, kann damit aber angesichts des Wissens der sie umgebenden Gesellschaft weitaus weniger anfangen als Individuum als Demokrit, an den man sich noch fast 2,5 Jahrtausende später noch erinnert. Zum Schluss kommt Vogelmann dann noch einmal darauf zu sprechen was unter Nichtsouveränität politischer Epistemologie zu verstehen ist: Zu einem Satz zusammengefasst, gestaltet Politik, was, wie gewusst werden kann und, was gewusst wird, gestaltet, was politisch verhandelbar ist. Wissen kann immer nur die Wahrheiten mediatisieren, deren Erfahrbarkeit gesellschaftlich und technisch verfügbar ist. END!

[1] Ein Großteil des Buches ist jetzt hier online verfügbar: https://warwick.ac.uk/fac/soc/sociology/staff/sfuller/media/the_governance_of_science_optimised.pdf, Zugriff am 02.11.2023

[2]  Eine Bezahlquelle meines Textes von 2015 ist da hinterlegt:  https://www.ingentaconnect.com/content/oekom/gaia/2015/00000024/00000003/art00005?crawler=true&mimetype=application/pdf

 

[3] https://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674001879.