Strukturelle Sowjetisierung? Überlegungen zum aktuellen Stand der veröffentlichten geisteswissenschaftlichen Hochschulpolitikkritik

Klaus Schlichte ein Professor der Politikwissenschaft aus Bremen hat im März vergangenen Jahres die Formel geprägt, bei der Exzellenzstrategie handele es sich um ein Sowjetisierungsprogramm. Er fühlt sich angesichts der Exzellenzinitiative einerseits an eine Verantwortung aufhebende Apparatsherrschaft sowjetischer Prägung, andererseits, was die durch sie geschaffenen Organisationsformen und Neztwerke betrifft, an nachkoloniale auf Big Men zentrierte Gefolgschaftsnetzwerke Afrikas erinnert. Entscheidungen über die Zuerkennung des Exzellenzstatus fielen in einer Niemandsherrschaft, die Hierarchisierung und Oligarchisierung vorantreibe, meinte er. Schlichtes Forschungsgebiet ist neben politischer Gewalt politische Herrschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Auch Stefan Plaggenborg, ein Osteuropahistoriker hat diesen Topos vor einigen Wochen in der FAZ bemüht, er sprach am 3. Juli von einer „strukturellen Sowjetisierung der Geisteswissenschaften“. Der Text war, was Einstieg und Titulierung anbetrifft schrill, zu schrill um beim ersten Lesen Nachdenken auszulösen und erschien deshalb einer dieser Wandsteine zu sein, die Teil der Nichtkontingenzillusion des wissenschaftspolitischen Ist-Standes sind (entsprechen habe ich mich in einer ersten Äußerung auf Twitter dazu geäußert). Aber der Text verdient einen zweiten Blick, weil, schaut man durch die Firnis des Schrillen hindurch, verbergen sich darunter zumindest nachvollziehbare Gedanken.

Sowjetisierung sieht Plaggenborg insofern, als es eine Anverwandlung des deutschen Hochschulsystems zwar nicht an die Ideologie, aber an die Planungsverfahren der Sowjetunion gebe, und insbesondere für die Geisteswissenschaften habe das gravierende Folgen.

(1.) Erinnerten ihn Ziel- und Leistungsvereinbarungen an Planwirtschaft, denn hier gehe es ja um eine einseitige Verpflichtung auf Produktionsziele, Einseitigkeit sei dadurch gegeben, dass das Management (die Hochschulleitung) keinerlei Verpflichtungen habe und lediglich die Planerfüllung kontrolliere.

(2.) Herrsche eine Tonnenideologie vor, meint Plaggenborg. Das sehe man daran, dass Qualitätsfragen nicht von Belang seien und Planziffern alles bedeuteten.

(3.) Gebe es eine Autorität des Managements. Dieses sieht er in einer Rolle, die es unmöglich mache zugunsten der Wahrung von Qualität auf Geld zu verzichten, dies schaffe Zwänge gegenüber den Produzenten unten am Ende der Befehlskette.

(4.) Folge dieser sowjetischen Befehl-Gehorsamskette sei Hierarchisierung. Zum einen gebe es eine Hierarchisierung entlang der kennziffernbasierten Erfolge oder Misserfolge und entsprechende „kennzifferninduzierte Entsolidarisierungseffekte“. Der Plan generiere Konformismus. All dies und die „drittmittelbasierte Kollektivforschung“ führe einerseits zu „institutionellen Hybriden“, deren Prestige sich auf die „pekuniär verursachte Anerkennung des Betriebsmanagements“ gründe. Aus dieser Wechselseitigkeit des Wunsches nach Anerkennung und andererseits der Prestigedistribution von oben resultiere eine Wissensanmaßung der höheren Ebene, ein „intervenierendes Besserwissen“ als Teil der strukturellen Sowjetisierung.

(5.) Kollektivierung der geisteswissenschaftlichen Arbeit schreite massiv voran. Rektorate würden die Fachgebiete zu Kollektivanträgen peitschen, weil diese mehr Geld in die Universitäten spülten. Professoren sähen sich somit Erwartungen gegenüber, die sie vor die Alternative stellten an derlei mitzuwirken oder „ein Buch zu schreiben“, das sei ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Institutionen der Kollektivforschung entstünden, meint Plaggenborg, und gingen automatisch davon aus, dass Gruppenforschung bessere Ergebnisse hervorbringe als Einzelforschung.

(6.) Individuelles geisteswissenschaftliches Forschen werde insofern entwertet. Dadurch werde institutionell verlernt, Forschung jenseits „tonnenidologischer Parameter“ zu bewerten.

(7.) Konformismus und Servilität entstünden als mittelbare Sowjetisierungsfolgen. Zunehmend seien junge Kollegen gar nicht mehr in der Lage, dieses System zu hinterfragen, würden denken, zum Forschen gar nicht die Zeit zu haben, denn sie müssten Anträge schreiben.

Wissenschaftspolitiker und Hochschulmanager seien Anhänger dieser „strukturellen Sowjetzone“, von ihnen sei keine Abhilfe zu erwarten, von Studierenden auch nicht, allenfalls könne helfender Wandel von Hochschullehrern ausgehen.

Plaggenborg ist Osteuropahistoriker und damit u. a. auch Spezialist für autoritäre Strukturen, das mag seinen Blick vielleicht allzu stark auf eine Mechanik des Autoritären gelenkt haben. Es hat aber auch – wie es scheint – seinen Blick getrübt, er hat deshalb nicht danach gefragt, ob das, was er diagnostizieren zu können meint, alle Wissenschaftsfelder oder nur sein geisteswissenschaftliches betrifft. Eine genauere empirische mit konkreten Beispielen gesättigte Beschreibung, wie sich wissenschaftliches Arbeiten denn nun verändert, fehlt. So fehlt auch ein Hinweis Plaggenborgs, wie die Gestalt seines Faches sich denn nun konkret verändert (dies ist dem Text, der ohnehin nicht den Anspruch ein empirischer zu sein, verfolgt, allerdings auch nur bedingt vorzuwerfen).

Der Text also ist ein recht grober Klotz, wirft aber dennoch interessante Fragen auf. Ganz zu Anfang des Nachdenkens schon einmal die Frage, warum solch ein Text überhaupt entsteht, genauer, warum ein Hochschullehrer, aus einem Fach, in dem es zur Grundsozialisation gehört, genau zu beschreiben, einen solchen Text so wenig um Genauigkeit bemühten Text abliefert. Eine Antwort könnte sein, dass das das Niveau ist, auf dem viele in der Wissenschaft über den universitären Betrieb reflektieren, reden und schreiben. Das ist – so hat es sich gezeigt – nicht sehr komplex und von einer Neigung, Belange durch die eigene Brille zu beschreiben, geprägt. Was in Ingenieurskreisen mit Metaphern wie „aus der Perspektive eines Hammers sieht ein jegliches Problem wie ein Nagel aus“ belegt wird, klingt aus der Feder eines Osteuropahistorikers halt so wie beschrieben.

Diese Art des Reflektierens über den universitären Betrieb ist einerseits organisationstypisch, ließe sich also im Rahmen einer Ethnologie der Universität beschreiben, sie verweist aber auch auf Forschungslücken und manifest fehlendes Wissen. Was fehlt, ist eine Erforschung der Schattenseiten dessen, was im Zuge der Exzellenzorientierung über die Universitäten gekommen ist und eine differenziert Analyse, was sich da wie in verschiedenen Fachkulturen verändert hat.

Nähme man eine solche Analyse vor, dann wüsste man, dass etliche Fächergruppen weit besser an den auf prämierbare Exzellenz orientierten Forschungs(governance)betrieb angepasst sind als die Geisteswissenschaften und andere möglicherweise schlechter. Naturwissenschaften, bei denen Großgruppenforschung ohnehin stattfindet, oder solche, die wie die Life Sciences, das, was in den Geisteswissenschaften Disziplinen sind, hinter sich gelassen haben, haben wenige Anpassungsleistungen zu erbringen. Schlechter angepasst als Geisteswissenschaften sind allerdings u. U. einige Sozialwissenschaften (insbesondere die Wirtschaftswissenschaften), die einerseits sehr ausgeprägt und lebensweltlich relevante Disziplinenstrukturen haben, anderseits nicht wie die vielfach kleinen Geisteswissenschaften die Erfahrung gemacht haben, dass man sich interdisziplinär zusammentun muss, um überhaupt eine forschungs- oder hochschulpolitische Sichtbarkeit zu erlangen. Hinzu kommt im Falle der Wirtschaftswissenschaften die Erfahrung, dass man, um gesellschaftlich und politisch eine Rolle zu spielen, die anderen Sozialwissenschaften nicht braucht.

Alltagsempirische Beobachtungen dieser Art bedürften einer wissenschaftssoziologisch-emprischen Abklärung, wenn man tatsächlich wissen wollen sollte, welche forschungspolitischen Lehren aus ihnen zu gewinnen wären. Das Interesse in diese Richtung hat dem hochschulpolitischen Betrieb bis heute gefehlt, es wäre aber zu wünschen, dass die nunmehr siebenjährige Ruhe im exzellenzstrategischen Nachrichtenstrom diesem Interesse zu Wirkung verhilft. Die Erfolgreichen bekämen damit Gelegenheit, etwas systematischer Klarheit darüber zu gewinnen, was sie richtig gemacht haben, die etwas weniger Erfolgreichen würden vielleicht etwas darüber erfahren, was sie hätten anders machen können. All das könnte am Ende helfen, ein Förder- bzw. Prämierungsinstrumentarium zu entwickeln, das in der Universitätslandschaft weniger Kollateralschäden und Ineffizienzen hinterlässt und so am Ende einen Wettbewerb ermöglichen kann, der allen, die an ihm teilnehmen werden, mehr Wissen über sich selbst verschafft.